Was Fruchtcocktails bewirken können

Foto: privat

Drittes Obergeschoss, der Fahrstuhl geht auf und Neles Blick schweift über den Schriftzug ,,Kinderonkologie‘‘. Mit einem kleinen Ruck schiebt Nele die mobile Cocktailbar auf die Station E22. Sie fällt sofort auf, sobald sie die Station betritt. Zum einen durch ihr leuchtend blaues T-Shirt mit buntem Schriftzug, zum anderen durch das klirrende Geräusch der Flaschen voll mit Fruchtsäften, wenn sie die mobile Cocktailbar fortbewegt.

Nele Krägel ist 29 Jahre alt und eine von 260 ehrenamtlichen ,,Fruchties‘‘ in ganz Deutschland. Die Wirtschaftsjuristin engagiert sich seit mehr als 5 Jahren ehrenamtlich bei dem Projekt ,,Fruchtalarm‘‘ am Standort in Minden. ,,Als Fruchtie mixe ich in erster Linie mit den Kindern und Jugendlichen auf der Krebsstation bunte Fruchtcocktails und versuche, sie ein Stück weit aus ihrem fremdbestimmten Alltag herauszuholen‘‘, so die 29-Jährige.

Das Projekt ,,Fruchtalarm‘‘ entstand 2010 in Bielefeld-Bethel durch die persönliche Betroffenheit einer Familie, die ihren achtjährigen Sohn durch eine unheilbare Krebserkrankung verlor. ,,Wir haben sehr viel Zeit mit unserem Sohn auf der Kinderkrebsstation verbracht (….), man ist als Elternteil total hilflos und verzweifelt‘‘, so Marcel
Lossie, der Projektinitiator von ,,Fruchtalarm‘‘. In dieser schweren Zeit stellte Lossie fest, welch enormen Einfluss die Chemo- und Strahlentherapie auf die Sinneswahrnehmungen der Kinder
und Jugendlichen hat. Dr. Norbert Joch, leitender Arzt Kinder-Hämatologie/Onkologie im Kinderzentrum Bethel, erklärt, dass ,,ein weiteres Problem der Chemo- und Strahlentherapie
die Verletzung der Schleimhäute ist‘‘, weshalb die Kinder noch weniger Nahrung und Flüssigkeit aufnehmen.

Die Idee zum Fruchtalarm entstand über Nacht. ,,Es war eine intuitive Idee, ohne zu ahnen, was Fruchtcocktails bewirken können.‘‘, sagt Lossie. ,,Im Krankenhaus hat man ständig Alarm (…), ich wollte diesen negativen Begriff in etwas Positives umwandeln‘‘, erklärt der
Projektinitiator. Also gründetet der 45-Jährige 2010 das Projekt Fruchtalarm. Neben der Tatsache, dass das Projekt krebskranken Kinder und Jugendlichen eine Freude bereiten und
sie ablenken möchte, hat es sich zum Ziel gesetzt, das Thema ,,Kinderkrebs‘‘ zu enttabuisieren und den öffentlichen Diskurs in der Gesellschaft anzuregen.


Nachdem das ganze Equipment samt Mixbecher, Eiswürfel-Behälter und Flaschen-Aufsätze gründlich gereinigt, abgekocht und desinfiziert wurde, geht Nele mit der mobilen Cocktailbar
von Zimmer zu Zimmer. Die Augen der Kinder leuchten, sobald sie mit dem knallbunten Cocktailwagen das erste Zimmer betritt. Viele Kinder haben sich bereits vorher verschiedene Cocktail-Kombinationen zurechtgelegt. Wenn Nele jedoch nach einer Empfehlung gefragt wird, dann ist ihre Standardantwort ,,Orangen- und Maracujasaft mit Erdbeer- und Vanillesirup
– das ist ein Klassiker, der geht wirklich immer!‘‘ Die Kinder strahlen sie an, nehmen den großen Cocktailbecher in die Hand und mixen, bis sich die bunten Farben der Säfte vermischt haben. ,,Diese Freude und Herzlichkeit, die uns Fruchties entgegengebracht wird, ist wirklich beeindruckend‘‘, erzählt Nele, ,,es gibt einfach nichts Schöneres, als den Kindern in einer so schweren Zeit ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern‘‘.


Durch den Fruchtalarm werden alle Sinne bei den Kindern und Jugendlichen angesprochen und stimuliert. ,,Sie sehen die bunten Farben, fühlen die kalten Eiswürfel, riechen die verschiedenen Zutaten, trinken ihren Frucht-Cocktail und bewegen sich‘‘, erklärt Marcel Lossie.


Er erinnert sich noch genau an den allerersten Fruchtalarm in Bielefeld im Jahr 2010 und an ein achtjähriges Kind, welches bettlägerig war und eine Woche nichts getrunken hatte. ,,Als wir mit unserer Cocktailbar in das Zimmer kamen, hat sich das Kind aufgerappelt, einen Cocktail gemixt und ihn getrunken‘‘, erzählt Marcel Lossie, ,,da dachten sich sofort alle: Wow das funktioniert!‘‘


Fruchtalarm ist mittlerweile das größte Kinderkrebsprojekt Deutschlands. Mit seinen mehr als 260 ehrenamtlichen Fruchties im Alter von 16-68 Jahren werden an 34 Standorten in ganz Deutschland krebskranke Kinder und Jugendliche einmal wöchentlich mit frischen
Fruchtsäften versorgt. ,,Dass das Projekt eines Tages so ein Ausmaße annimmt, hätte ich niemals für möglich gehalten‘‘, so Projektinitiator Lossie.


Auch wenn für Nele Krägel in erster Linie der freudige Augenblick, den Fruchtalarm hervorruft, im Vordergrund steht, kann sie das schwere Schicksal der krebskranken Kinder und Jugendliche nicht komplett ausblenden. ,,Einmal bin ich wie jeden Mittwoch in die Klinik gegangen und plötzlich war dort ein Altar aufgebaut.‘‘, erzählt Nele. Ein Kind, das sie lange mit Fruchtalarm begleitet hatte, hat den Kampf gegen die Krebserkrankung verloren. ,,Da könnte ich heute noch anfangen zu weinen, das lässt einen nicht los (…), man fiebert und hofft mit.‘‘, so die 29 Jährige.
Nele hat während ihrer Zeit bei Fruchtalarm festgestellt, wie sehr ihre ehrenamtliche Arbeit als ,,Fruchtie‘‘ sie erdet und prägt. ,,Man merkt einfach, worauf es wirklich ankommt im Leben (…) und das ist einzig und allein die Gesundheit‘‘, sagt sie.


Genau da knüpft Fruchtalarm an, denn das Projekt hat sich zum Ziel gesetzt, das Thema Kinderkrebs zu enttabuisieren und gesellschaftsfähig zu machen. Der deutschen Krebsgesellschaft zufolge bekommen im Schnitt täglich 5 Kinder die Diagnose Krebs, 80% der Kinder können geheilt werden. ,,Natürlich blendet man Themen, die unangenehm sind und von denen man nicht direkt betroffen ist, in seinem Privatleben erstmal aus‘‘, so Lossie. Jedoch betont der Gründer, dass Fruchtalarm versucht, den freudigen Augenblick in den Vordergrund zu stellen und die Menschen über diesen Weg dazu bewegen möchte, die eigene Gesundheit nicht als selbstverständlich anzusehen.


Wenn die Fruchties das Krankenzimmer betreten, gerät alles andere in den Hintergrund. Sie vergessen die Krankheit und stehen im Mittelpunkt, aber eben nicht aufgrund ihrer Krebserkrankung, sondern aufgrund des Menschen. Die Kinderaugen leuchten, ein breites Lächeln fährt durch ihr Gesicht und sie halten ihren selbst kreierten Fruchtcocktail stolz in den Händen. ,,Ich bin sehr dankbar für diese Erfahrung‘‘, erzählt Nele, ,,ich lerne so tolle, mutige und tapfere Kinder kennen und kriege so viel zurück, das ist wirklich ein
unbeschreibliches Gefühl‘‘.

Morina Müller