Der öffentliche Umgang mit Männlichkeitsvorbildern

Es sind drei Bilder zu sehen. Links ist ein Bild von einem Schild auf dem der Titel "Masculinity. Reclaim the real man within you" steht. Darunter sind Anweisungen, wie man ein "echter Mann" wird. In der Mitte ist ein Aufkleber zu sehen, der auf einem lilafarbenen Hintergrund klebt. Der Aufkleber ist schon etwas abgerissen und man kann noch den Schriftzug "FUC PATRIARCHY" erkennen. Links ist ein Bild, das scheinbar auf einer Demonstration aufgenommen wurde zu sehen. Im Mittelpunkt steht dabei eine Person, die ein Schild mit der Aufschrift "STOP TOXIC MASCULINITY STOP WAR" hält. Im Hintergrund sieht man auch eine Pride-Flagge und eine Ukraine-Flagge.
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Männlichkeit im öffentlichen Diskurs

Es sind drei Bilder zu sehen. Links ist ein Bild von einem Schild auf dem der Titel "Masculinity. Reclaim the real man within you" steht. Darunter sind Anweisungen, wie man ein "echter Mann" wird. In der Mitte ist ein Aufkleber zu sehen, der auf einem lilafarbenen Hintergrund klebt. Der Aufkleber ist schon etwas abgerissen und man kann noch den Schriftzug "FUC PATRIARCHY" erkennen. Links ist ein Bild, das scheinbar auf einer Demonstration aufgenommen wurde zu sehen. Im Mittelpunkt steht dabei eine Person, die ein Schild mit der Aufschrift "STOP TOXIC MASCULINITY STOP WAR" hält. Im Hintergrund sieht man auch eine Pride-Flagge und eine Ukraine-Flagge.
Fotocredits von links nach rechts: "Masculinity: Reclaim the real man within you" by Vanlal, Flickr, licensed under CC BY-NC-ND 2.0. "Fuc Patriarchy in Liverpool" by Loz Flowers, Flickr, licensed under CC BY-SA 2.0. "Woman with sign "Stop toxic masculinity, stop war"" by ChickSR, Wikimedia Commons, licensed by CC BY-SA 4.0.

Disclaimer: In diesem Artikel wird viel von Männern, Männlichkeit, Frauen und Weiblichkeit gesprochen. Wir sind uns bewusst, dass dieser Sprachgebrauch eine eingeschränkte Perspektive auf die Kategorie Geschlecht aufrechterhält und Geschlechtsidentitäten außerhalb des binären Systems außer Acht lässt. Der Verständlichkeit halber und, damit sich möglichst viele Menschen, die oftmals Teil mächtiger unterdrückender Strukturen sind, angesprochen fühlen, belassen wir es dabei an dieser Stelle darauf hinzuweisen.

He starts crying and you know, I had never seen an adult man cry. I didn’t really see my dad cry at my grandma’s funeral. You know, it’s weird.

-Amber Heard, Aussage beim Verhör im Gerichtsprozess gegen Johnny Depp, 04.05.2022

Der öffentliche Gerichtsprozess zwischen den Schauspieler*innen Amber Heard und Johnny Depp wurde im Jahr 2022 medial so intensiv kommentiert und diskutiert wie kaum eine Verhandlung zuvor. Depp verklagte Heard im März 2019 aufgrund von Verleumdung auf einen Schadensersatz in Höhe von 50 Millionen US-Dollar. Ursache dafür ist ein Artikel der Schauspielerin, den sie im Dezember 2018 in der Washington Post veröffentlichte. Heard erklärte darin, dass sie Opfer häuslicher Gewalt geworden sei, erwähnte Depp dabei jedoch nicht namentlich. Amber Heard verklagte Johnny Depp wiederum auf 100 Millionen US-Dollar Schadensersatz, da sie ihre Reputation gefährdet sah. 

 Nicht nur durch die im Raum stehenden Vorwürfe der häuslichen Gewalt lassen sich anhand dieses Prozesses gesellschaftlich etablierte patriarchalische Rollenbilder erkennen. Auch durch Aussagen wie sie Heard beispielsweise während ihres Verhörs am 04.05.2022  tätigte können entsprechende Muster wahrgenommen werden. So sagte die Schauspielerin, dass sie noch nie einen erwachsenen Mann, nicht einmal ihren Vater während der Beerdigung ihrer Großmutter, hätte weinen sehen. Sie bezeichnete Depps Weinen als seltsam.

 

Eigenschaften wie Schwäche zeigen oder weinen zu können scheinen hier als unmännlich klassifiziert zu werden. In einer Audio-Nachricht, die dem Gericht wenige Tage zuvor vorgespielt wurde, schlägt die Schauspielerin Depp außerdem sarkastisch vor sich öffentlich als Mann und als Opfer häuslicher Gewalt zu outen.

Bereits die 2016 und 2018 (indirekt) getätigten Vorwürfe gegen Depp, handgreiflich gegenüber seiner damaligen Partnerin geworden zu sein, würden toxisch-männlichen Verhaltensweisen entsprechen. Gleichzeitig suggeriert die Aussage der Schauspielerin, dass die Möglichkeit, dass Männer auch Opfer häuslicher Gewalt werden können, gesellschaftlich nicht verbreitet ist. Zum einem kann diese Tatsache darauf zurückgeführt werden, dass Opfer sein nicht mit dem Geschlecht Mann verknüpft wird, da die Vorstellung vorherrscht, Männer müssten immer stark, tapfer oder eben Täter sein. Ein anderer Grund dafür ist die Gegebenheit, dass sich Männer meist nicht trauen, sich der Gesellschaft als Opfer von Gewalt, vor allem wenn diese von einer weiblichen Person verübt wird, zu präsentieren. Es konnte bis heute keine gesellschaftliche Repräsentation des männlichen Opfers erfolgen. Auch hier lässt sich die Ursache darauf zurückzuführen, dass dieses Outing der Vorstellung von Männlichkeit widersprechen würde, denn diese wird in unserer patriarchalen Gesellschaft nicht zuletzt mit Macht, Stärke und Kontrolle verknüpft.

Dem Journal of Health Montoring des Robert Koch Instituts kann beispielsweise entnommen werden, dass weiblich gelesene Menschen psychotherapeutische und psychiatrische Leistungen mit 11,3% deutlich häufiger in Anspruch nehmen als männlich gelesene Personen mit 8,1%.  Eine ähnliche Geschlechterdifferenz zeigt sich auch statistisch in der Suizidrate.

Dr. Paul Scheibelhofer beschäftigt sich an der Universität Innsbruck im Kontext der kritischen Männlichkeitsforschung u.a. mit diesen strukturellen und gesellschaftlichen Voraussetzungen an Männlichkeit, die bis hin zum Suizid führen können. Die Forschungsrichtung geht laut Scheibelhofer davon aus, dass Geschlecht nicht nur ein Problem für Frauen ist, sondern dass wir in einer Welt leben, in der alle Menschen von bestimmten Erwartungen und Strukturen, die priviligieren und marginalisieren, betroffen sind. Kritische Männlichkeitsforschung geht den Fragen nach, welche Auswirkungen diese Normen und Strukturen auf Männlichkeit haben, aber auch wie männliche Praktiken, männliche Selbstverständlichkeiten und männliche Lebensweisen wieder zurück auf diese Strukturen einwirken.

WAS IST TOXISCHE MÄNNLICHKEIT?

Den Begriff toxische Männlichkeit ordnet Dr. Paul Scheibelhofer dem Konzept der hegemonialen Männlichkeit zu. Dieses geht davon aus, dass es in jeder Gesellschaft, in der ungleiche Geschlechterverhältnisse vorherrschen, Ideen von richtiger und normaler Männlichkeit gibt, die erstrebenswert sind und Anerkennung bekommen. Gleichzeitig gibt es somit auch Männlichkeiten, die von der Gesellschaft abgewertet werden.

Das Konzept der toxischen Männlichkeit stammt jedoch nicht aus der Wissenschaft, sondern aus sogenannten „Männerselbstverständigungsgruppen“, die verstehen wollen, wieso es ihnen im Patriarchat schlecht geht. Nachdem der Begriff lange Zeit nicht mehr verwendet wurde, erfuhr er durch soziale Bewegungen und die Medien vor allem im Kontext von #metoo wieder Aufmerksamkeit.

Der Sozialforscher erkennt dem Konzept der toxischen Männlichkeit an, dass es den Blick der kritischen Männlichkeitsforschung einnimmt: Dass es nicht einfach normal sei, was Männer machen, sondern es anders sein könnte und dass es dafür Bedingungen gäbe. Die Popularisierung des Begriffs erachtet Scheibelhofer als extrem wertvoll, denn er könne vom Schulhof über psychotherapeutische Gespräche bis hin zu Diskussionen im Fernsehen verwendet werden. Dennoch blickt der Sozialforscher auch kritisch auf den Begriff, denn dieser lenke den Fokus auf Extremfälle  toxischer Männer, wie beispielsweise Harvey Weinstein. Dies verleite dazu, dass der Diskurs auf solche Einzelfälle verengt wird. Aus dem Blicken gerieten dabei andere Männlichkeitsformen, die das Patriarchat ebenso unterstützen: Zum Beispiel gehen Männer im Vergleich zu Frauen durchschnittlich deutlich kürzer in Elternzeit.

MÄNNLICHKEIT UND GENDER IM ÖFFENTLICHEN DIKURS

Der Hashtag #metoo wurde erstmals 2006 von der Aktivistin Tarana Burke genutzt, um öffentliche Aufmerksamkeit für den sexuellen Missbrauch an afrikanisch-US-amerikanischen Frauen zu erzielen. Eine gesellschaftliche Verwendung erfuhr der Hashtag 2017, nachdem der Aufruf der Schauspielerin Alyssa Milano dazu führte, dass Frauen ihre Erfahrungen mit sexuellen Übergriffen und Diskriminierung unter #metoo in den sozialen Medien teilten. Ursprünglicher Auslöser für die Wiedergeburt des Hashtags war ein Artikel der New York Times, in dem Filmproduzent Harvey Weinstein sexuelle Belästigung vorgeworfen wurde. 

Die #metoo-Bewegung ermöglichte der breiten Gesellschaft die Benennung und Thematisierung von sozialen Missständen, die patriarchalen Strukturen entspringen und somit auf Geschlechterungleichheit basieren. Gleichzeitig erleichterte die öffentliche Verbreitung des Hashtags, toxisch männliche Verhaltensweisen und Muster zu kritisieren. Ausführlichere Informationen zur #metoo-Bewegung und verwandten Thematiken kann beispielsweise der entsprechenden Zusammenfassung und Themenseite der Zeit entnommen werden. 

Nicht nur Dr. Paul Scheibelhofer rechnet der Bewegung die Popularisierung des Begriffs “Toxische Männlichkeit” hoch an. Auch der Männerforscher und Dozent Christoph May schreibt den Einzug des Begriffs in den breiten und öffentlichen Diskurs #metoo zu. 

#metoo war 2017 der Wendepunkt, an dem es der feministischen Bewegung endgültig gelungen ist, die Kritik an Männern in der ganzen Gesellschaft zu verankern. Den Begriff toxische Männlichkeit haben wir dieser Bewegung zu verdanken. Genauso wie die Tatsachen, dass sich Männer mit der sexistischen Lebensrealität von Frauen auseinandersetzen mussten und dass diese Geschichten in die Welt kamen und bis heute in die Welt kommen.

-Christoph May im Interview, 21.06.2022

Trotzdem kann May, der mit seiner Frau Stephanie May 2016 das Institut für kritische Männerforschung gründete, nur wenige positive Veränderungen seit 2017 wahrnehmen. Vor allem weil eine diverse gesellschaftliche Entwicklung größtenteils von nicht-männlichen Personen vorangetrieben wird.

Eine positive Entwicklung kann nur ganz rudimentär wahrgenommen werden. Vor allem kann ich nicht sehen, dass Männer in relevanter Zahl am feministischen Diskurs teilnehmen. Wo sind die? Die Veränderung kann vielleicht ein bisschen in den Bildern und Narrationen bei Netflix gesehen werden, aber das kommt auch nicht von Männern, sondern vor allem von Frauen und queeren Personen. Das Positivste an der Entwicklung der Gesellschaft ist, dass der Begriff der toxischen Männlichkeit nicht mehr weg zu denken ist, dass dieser überall vorkommt. Dass Männlichkeit überhaupt als problematisch betrachtet wird, ist der Awareness-Point bzw. Wendepunkt der #metoo-Bewegung.

Die Strukturen verändern sich leider sehr sehr langsam und damit ist vor allem die jüngere Generation konfrontiert. Es ist u.a. ein Generationenproblem. Ich arbeite sehr gerne mit jungen Menschen zusammen, weil die meisten die Problematiken auf den Schirm haben. Sobald man aber Männer in einem Alter ab 40, 50 in den Seminaren hat ist der ganze Abwehrkatalog wahnsinnig.

-Christoph May im Interview, 21.06.2022

Ein Blick auf Amber Heard als Angelpunkt der Debatte um #metoo, sowie um Geschlechterverhältnisse und Männlichkeit, ist weniger aufgrund ihrer Worte und Handlungen selbst von so großem Interesse, sondern vielmehr, weil die Reaktionen auf den Prozess hervorragend als Spiegel der Gesellschaft betrachtet werden können. Es ist mehr als auffällig, wie der extreme Fokus auf sie als Individuum erst dann zu einem so viralen Phänomen wurde, als im Rahmen des Gerichtsprozesses ein Umschwung ihrer wahrgenommenen Rolle von Opfer zu Täterin erfolgte.

Der tatsächliche Ausgang, das Urteil und die Schuldfrage waren letztlich beinahe irrelevant; was hier für eine solche Gravitas sorgte und so manchen sonst in grenzenlos an der Thematik uninteressierten Menschen aus der Versenkung lockte, war wohl leider eher die Tatsache, dass man öffentlich Abscheu und Empörung für eine Frau zum Ausdruck bringen konnte. Mehr noch als das, es stand sogar im Namen des guten Zweckes, der Gerechtigkeit in einem Fall mentalen Missbrauchs und häuslicher Gewalt. Einseitig war die öffentliche Meinung im Fall Heard vs. Depp zwar keineswegs, doch die Tendenz der Masse wurde zunehmend sichtbar, auch lange vor dem finalen Urteil. 

Genau dadurch wird deutlich, dass sich solche Präzedenzfälle, besonders, sobald sie im Diskurs des Mainstream angekommen sind, schnell als zweischneidiges Schwert erweisen können. Heards Aussagen über Depp sowie der Prozess als Ganzes haben das Bild des fühlenden, leidenden, gebrochenen Mannes und dessen Akzeptanz gewiss stark ins Rampenlicht gerückt, was eine sehr wichtige Entwicklung ist, boten zur selben Zeit jedoch auch beunruhigenden Nährboden für „Men’s Rights“ Gedankengut und ganz allgemein für, unter dem Deckmantel der Empathie für betroffene Männer, ausgelebte Misogynie, wie in den beigefügten Tweets unschwer erkennbar ist.

KRITISCHE MÄNNLICHKEITSFORSCHUNG

Dr. Paul Scheibelhofer zu kritischer Männlichkeitsforschung (22.06.2022):

In den 1970er Jahren formte sich in Nordamerika die Männerrechtsbewegung (men’s right movement), welche die Annahme vertritt, dass Männer zahlreichen gesellschaftlichen Nachteilen ausgesetzt sind, welche rechtliche, soziale und psychische Bereiche betreffen. Die Bewegung teilt sich in zwei Strömungen.  Erstere vertritt antifeministische und frauenfeindliche Positionen, konservative Männlichkeitsbilder und sieht Männer als Opfer der Gesellschaft. Die Annahme, dass Männer als Gruppe eine institutionalisierte Macht besitzen und Vorteile durch ihre Privilegien besitzen, wird durch die Männerrechtsbewegung abgelehnt. Unterstrichen wird diese Ansicht mit der Annahme, dass sich die Gesellschaft gynozentristisch, also nach den Bedürfnissen der Frauen ausgerichtet, entwickelt habe. Männer seien gesellschaftlich unterdrückt, was sich durch feministische Strukturen verstärke. Die Journalistin Susanne Kaiser spricht hierbei in ihrem Buch Politische Männlichkeit: Wie Incels, Fundamentalisten und Autoritäre für das Patriarchat mobil machen von einer Täter-Opfer-Umkehr. Die zweite Strömung der Männerrechtsbewegung vertritt unter dem Begriff der “Geschlechterversöhnung” die Annahme, dass sowohl Männer, als auch Frauen in spezifischen Bereichen benachteiligt werden und fordert eine Anerkennung dessen. Die Mitglieder der Männerrechtsbewegung bestehen überwiegend aus weißen, heterosexuellen Männern aus der Mittelschicht. In Kreisen von Männerrechtsaktivisten finden sich neben Männern in privaten Krisensituationen vor allem geschiedene Väter, welche durch das Familienrecht benachteiligt werden. Ein weiterer Grund für den Anschluss an Männerrechtsbewegungen können finanzielle Probleme sein, wobei sich Männer der Arbeiterklasse mit dem zugleich herrschenden Stereotyp des männlichen Familienernährers konfrontiert sehen. Außerdem zählen auch institutionelle Barrieren, beispielsweise bei dem Wunsch mehr Zeit mit den eigenen Kindern verbringen zu können, zu den Ursachen für einen Beitritt in männerrechtsaktivistische Gruppierungen.

DIE VERÄNDERUNG VON MÄNNLICHKEITSBILDERN

Dr. Scheibelhofer erklärt, dass Geschlechterverhältnisse nie starr gewesen seien und immer von Veränderung leben würden. Heutzutage gäbe es das Bild von den Männern in der Krise, allerdings ist das nicht neu. Was sich vor allem verändert habe, sei eine größere Ausdifferenziertheit der Männlichkeitsbilder. Alternativen zur Norm, wie beispielsweise das öffentliche Zeigen von Emotionen, würden mehr in das Selbstbild integriert. Bei der Auseinandersetzung mit Veränderungen von Rollenbildern sei  es außerdem wichtig, die Stadt-Land Achse im Blick zu behalten, da die Debatten um Geschlechterbilder häufig sehr städtisch zu verorten seien. Es werde über die Allgemeinheit gesprochen, aber auf dem Land gäbe es ganz andere Veränderung als in der Stadt. In Dörfern finden sich öfter konservative Denkweisen und auch die Kirche spielt häufig eine wichtigere Rolle, so Scheibelhofer. Trotz aller positiven Veränderungen in Bezug auf Geschlechternormen gibt er zu bedenken, dass es auch oft zu einer Retraditionalisierung käme: Paare, welche eigentlich geschlechtergerecht leben, erleben häufig beim Zusammenziehen und nach der Geburt des ersten Kindes einen starken Rückschritt in die klassische Rollenverteilung. 

Dr. Scheibelhofer spricht in unserem Interview außerdem von Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern, die oft unerkannt bleiben und nicht zahlenbasiert sind. Diese müssen offengelegt werden, um beispielsweise auch weiße cis-hetero Männer aus der Mittelschicht zu erreichen und ein Bewusstsein für alle diese Ebenen der Privilegien zu schaffen. Als ein Beispiel für harte Fakten nennt Scheibelhofer hierbei Gewalt Gegen Frauen oder die Elternzeit, die immer noch zu viel kleineren Anteilen von Männern in Anspruch genommen wird.

Dr. Paul Scheibelhofer über alltägliche männliche Privilegien (22.06.2022):

WIE MÜSSEN GESELLSCHAFTLICHE UND INDIVIDUELLE STRATEGIEN AUSSEHEN, SODASS TOXISCHES HABITUALISIERTES MÄNNLICHKEITSWISSEN ÜBERWUNDEN WERDEN KANN?

Durch die Auseinandersetzung mit dem Thema, können sich Männer bewusst machen, inwiefern sie toxische Aspekte ihrer Männlichkeit reproduzieren. Weibliche Erfahrungen, Meinungen und Sichtweisen werden noch immer strukturell abgewertet – im Privaten und im Politischen, so Scheibelhofer. Die Stärke dieser Misogynie muss erkannt werden. Nur wer Frauen und weiblich gelesenen Personen zuhört und ihre Erfahrungen nachvollziehen lernt, kann dieses Wissen dazu nutzen, einen anderen Blick auf sich selbst zu entwickeln. 

Toxische Männlichkeitsbilder schaden nicht nur Frauen und weiblich gelesenen Personen auf der einen Seite, sondern auch Männern und männlich gelesenen Personen auf der anderen. „Boys don’t cry“, die Vorstellung Emotionen zu zeigen und psychische Probleme zu haben sei unmännlich, führt letztlich zu erhöhten Suizidraten bei Männern. Dass körperliche Kraft und das zur Schau stellen dieser als männliche Attribute gelten, verursacht womöglich erhöhte männliche Opfer- aber auch Täterzahlen im Bezug auf Gewalttaten. Das patriarchal geprägte Bild des Mannes, der Macht über Frauen ausüben darf wirkt noch heute auf unsere Gesellschaft, was an den hohen Zahlen an weiblichen Opfern sexualisierter Gewalt zu sehen ist, wobei die Täter zu 98% männlich sind. Dass es an der Zeit ist männliche Stereotype, aber auch veraltete Geschlechterbilder im Allgemeinen, aufzubrechen und zu verändern, wird durch die Auseinandersetzung mit der Thematik mehr als deutlich. Denn am Ende profitiert eigentlich niemand davon.

Es stellt sich die Frage, was wir als Privatpersonen, aber auch wir als Gesellschaft, tun können um einen Wandel zu erzeugen. Christoph May nimmt vor allem Männer in die Verantwortung und fordert sie dazu auf sich mit dem Thema auseinanderzusetzen, rein männliche Strukturen aufzubrechen, sich für Gleichstellung der Geschlechter einzusetzen, beim Medienkonsum auf Diversität zu achten und den kritischen Diskurs über veraltete Männlichkeitsbilder anzuregen.

Christoph May zur Frage „Was können Männer dagegen tun?“ (21.06.2022) :

Letzteres hat sich auch der Berliner Influencer und TikToker Max Leo zur Aufgabe gemacht. Seit 2011 schon auf Instagram aktiv, begann dieser dann Anfang 2020 auch auf TikTok zu posten. Bereits seine ersten Videos, in denen er, eine Person die als männlich gelesen wird, sich als fiktive sechste Kardashian-Tochter Kendra präsentiert, zeigen auf, dass Max Leo Geschlechternormen aufbrechen möchte. Der Erfolg auf TikTok kommt jedoch erst 2021, als der Influencer anfängt in die Kamera zu sprechen und dabei Themen wie Catcalling, Queerphobie oder Hass gegen seinen “zu weiblichen“ Kleidungsstil zu thematisieren. Der Hass geht dabei meist von männlich gelesenen Personen aus. Max Leo möchte der Öffentlichkeit zeigen, mit welchen Situationen man sich im Alltag als androgyne, queere Person konfrontiert sieht, selbst in einer vermeintlich weltoffenen Stadt wie Berlin. 

Auf eine humorvolle und dennoch differenzierte Art und Weise zeigt er in seinen TikToks auf, dass es immer Menschen geben wird, die etwas an einem auszusetzen haben, aber dass man sich deswegen nicht verstecken sollte. Denn Nagellack und Croptops haben kein Geschlecht und können von jedem/jeder getragen werden! Und die Resonanz ist groß. Neben den üblichen Kritiker*innen gibt es auch viele Personen, die durch den TikToker den Mut entwickeln ihre Persönlichkeit zu zeigen und Gendernormen zu durchbrechen.

Max Leo im Interview, 24.06.2022:

Influencer*innen wie Max Leo können also nicht nur dazu beitragen den Diskurs über Männlichkeit in die Öffentlichkeit zu tragen, sondern auch aufzuzeigen, dass es so etwas wie “rein männlich“ oder “rein weiblich“ einfach nicht gibt.



WOHIN MIT DER MÄNNLICHKEIT?

Die Macht des Patriarchats, also die strukturelle Gewalt und Herrschaft von Männlichkeiten über andere Geschlechter und deren Abwertung, ist im Einzelnen oft schwieriger zu erkennen als beispielsweise unmittelbar nachvollziehbare Taten wie Catcalling oder Gewaltverbrechen. Das Ziel sollte sein, das Leben für alle Menschen gleichwertig lebenswert, also frei von Benachteiligungen zu gestalten. Dazu ist es auf der einen Seite unabdingbar, dass die strukturellen Voraussetzungen, die die Dynamiken des Patriarchats stützen, durchbrochen werden, denn die Höherbewertung von Männlichkeit ist institutionell stark verankert. So profitieren beispielsweise vor allem Männer finanziell vom sogenannten Ehegattensplitting, da diese häufig in besser bezahlten Berufen arbeiten und sich die sozioökonomische Kluft zwischen den Geschlechtern somit weiter vergrößert. 

Das kapitalistische System beruht darauf, dass in der Regel Frauen die unbezahlte Care-Arbeit in den Familien übernehmen, während Männer häufig dem Druck ausgesetzt sind, in der Rolle des starken Familienernährers einen Großteil der finanziellen Sicherung der Familie zu erwirtschaften. Auch hier wird sichtbar, welchen starren Rollen wir anheften und wie eingeschränkt die Vorbilder sind, nach denen wir leben. Diese Rollenbilder, geprägt von der mangelnden Repräsentation weiblicher Perspektiven, sei es in der Politik und der Wirtschaft, aber auch in Filmen, Serien und der Literatur, kombiniert mit den starren Anforderungen an Männlichkeit sind das Ergebnis unserer patriarchalen Gesellschaft. 

Der mediale Diskurs um den Gerichtsprozess zwischen Amber Heard und Johnny Depp zeigt uns die Auswirkungen und Mechanismen dieser Gesellschaft geradezu plakativ auf: Der weltberühmte Johnny Depp, der als Held gefeiert wird, weil er auf das sehr wichtige Thema Gewalt gegen Männer aufmerksam macht, das aufgrund von starren Männlichkeitsbildern viel zu selten behandelt wird und ihm gegenüber die mittelmäßig bekannte Schauspielerin Amber Heard, die in den sozialen Medien tagtäglich Hassrede erfährt, weil sie ihm wiederum häusliche Gewalt vorwirft. All das, obwohl niemand eigentlich genau weiß, was zwischen den beiden passiert ist und ob nicht womöglich beide ihren Anteil an der insgesamt ungesunden und gewaltvollen Beziehung hatten. 

Neben politischen und institutionellen Veränderungen, muss außerdem ein Umdenken auf individueller Ebene passieren. Das Offenlegen und Hinterfragen toxischer Verhaltens- und Denkmuster, öffentlichkeitswirksame Neudefinitionen von Männlichkeiten, sowie Diskurse in den sozialen Medien könnten in die Akzeptanz neuer Männlichkeitsvorbilder resultieren. Vor allem heranwachsende Generationen können dahingehend stark von diesem öffentlichen Diskurs, insbesondere in den sozialen Medien, profitieren, da dort Lebensrealitäten und Vorbilder gezeigt werden, die sich außerhalb der eigenen Familie oder der unmittelbaren Umgebung abspielen. Denn nur wenn es unserer Gesellschaft möglich wird neue Vorbilder kennenzulernen, können Identitäten diverser und frei von Verhaltens- und Denkmustern, die für einen selbst, aber auch für andere Personen schädlich sein können, geformt werden.

 

Ein Artikel von Sophia B., Alicia D.,  Laura H. und Dan S.

(1) und (2):Mord nach § 211StGB; Totschlag nach § 212 StGB; Körperverletzung mit Todesfolge nach §§ 227, 231 StGB; Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung nach §§ 174, 174a, 174b, 174c, 177, 178, 184i, 184j StGB.

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