The Politics of Memory - Museen und Dekolonisierung

Von Inga Friedel, Milena Kulik, Anouk Schlung, Ilayda Aydemir

"Dekolonisierung ist nicht einfach die Umplatzierung einer Statue oder eines Objekts; es bezieht sich auf einen langfristigen Prozess, der darauf abzielt, die integrale Rolle des Empires in Museen anzuerkennen – von ihrer Entstehung bis heute. Die Dekolonisierung erfordert eine Neubeurteilung unserer Institutionen und ihrer Geschichte und die Bemühung, koloniale Strukturen und Herangehensweisen in allen Bereichen der Museumsarbeit zu thematisieren."

So beschreibt die Museums Association (MA) des Vereinigten Königreichs den Prozess der Dekolonialisierung im musealen Bereich. Ursprünglich bezeichnete der Begriff Dekolonialisierung laut dem Cambridge Dictionary, „den Prozess, bei dem ein Land, welches zuvor eine Kolonie war, politische Unabhängigkeit erlangt“. Heute ist er ein Begriff, der in verschiedenen akademischen Bereichen, wie der Geschichts-, Politik- und Kulturwissenschaft, eine neue Bedeutung erlangt hat und somit ein Konzept, das in verschiedenen Kontexten verwendet wird. Doch wie beeinflusst der Prozess den wir als Dekolonisierung definieren, unser Verständnis von Museen? Was bedeutet es, ein Museum zu dekolonisieren? Warum ist dieses Thema in den letzten Jahren in den Vordergrund des politischen Diskurses gerückt? Welche Rolle spielt dabei das Humboldt Forum?

Kritik am Humboldt-Forum

Das Humboldt-Forum ist in den letzten Jahren und besonders den letzten Monaten seit der Eröffnung schon aufs genaueste bezüglich der kolonialen Aufarbeitung der Sammlung analysiert und kritisiert worden. Kritik, die angesichts der Konsequenzlosigkeit des Humboldt-Forums angemessen ist. Denn auch wenn in den Ausstellungstexten in der Afrika Abteilung des ethnologischen Museums im Humboldt-Forum die deutsche Kolonialzeit und die gewaltvolle Aneignung von Kulturgütern thematisiert sind, werden die Objekte, die größtenteils in Unrechtssituationen nach Deutschland gekommen sind, weiterhin hier ausgestellt.

Außerdem ist fraglich, wie sehr diese Äußerungen aus einer eigenen Motivation des Humboldt-Forums herauskommen, koloniale Beschaffungsumstände aufzuklären. Denn noch 2018 betonte der Professor für Kunstgeschichte und Intendant des Humboldt-Forums Horst Bredekamp, der deutsche Kolonialismus sei unter anderem aufgrund der Vielstaaterei nicht mit dem von beispielsweise Frankreich oder England zu vergleichen.

 

Es gibt eklatante Unterschiede zwischen den Sammlungen in Berlin, in Deutschland überhaupt, und den Sammlungen in den großen kolonialen Mächten.

So sei Kulturgut vor allem durch aufklärerisches Interesse nach Deutschland und Berlin gekommen und aus dem Interesse heraus, dieses vor Zerstörung zu retten. Der Historiker Jürgen Zimmerer führt jedoch an, dass es genügend andere Quellen gibt, die davon zeugen, dass der Aufklärungsgedanke eine euphemistische Vorstellung ist und auch Forschungsexpeditionen einem rassistischen und eurozentristischen Weltbild zugrunde lagen.

The Black Student Union an der Humboldt-Universität zu Berlin

Bezüglich der Eröffnung des Humboldt Forums positionierte sich die BSU schon am 15. Juli 2021 mit einem Instagram Beitrag kritisch gegen die Eröffnung des neuen Museums und mobilisierte zu Protesten.

Instagram Beitrag der BSU

Die BSU definiert sich als „Schwarze Hochschulgruppe an der Humboldt-Universität zu Berlin. [Die sich] 2020 als unabhängige Gruppe gegründet [hat], um die Interessen Schwarzer Studierender zu vertreten. [Ihr] Ziel ist es die Erfahrungen Schwarzer Studierender an der Uni zu verbessern.

hn lyonga studiert Amerikanistik im Master an der Humboldt Universität zu Berlin. Er ist Mitbegründer der BSU, sowohl Teil der BARAZANI.berlin. Auf der Basis eines kurzen Interviews, stellt hn lyonga die Arbeit und die Ziele der BSU und der BARAZANi.berlin präzise vor. Er verschafft einen Einblick zu den Gründen der Mobilisierung gegen des Humboldt Forum und zudem spricht er über sein persönliches Verständnis, darüber was z.B. Museen repräsentieren und warum „Dekolonisierung“ essenziell ist.

Bei BARAZANI.berlin – Forum Kolonialismus und Widerstand handelt es sich um „einen Raum der Zusammenkunft und der Diskussion, aber auch der Rechtsprechung. Bewusst sollen somit außereuropäische Konzepte bei der Konstitution von BARAZANI.berlin im Vordergrund stehen. Dabei beschränkt sich das Projekt keinesfalls auf den Bezug zu Ostafrika, sondern zentralisiert die Perspektiven all derer, die vom Kolonialismus zum Schweigen gebracht wurden und immer noch werden.“

Während dem Interview, beschreibt hn lyonga zudem die Ähnlichkeiten der BSU und BARAZANI.berlin, laut ihm „[beide Organisationen] fordern Institutionen heraus, ihre Praktiken zu ändern, sich über die Kontinuitäten des Kolonialismus und der Gewaltpraktiken, an denen sie sich beteiligen, bewusst zu werden. Und wie wichtig es ist, sich wirklich damit auseinanderzusetzen.“ 

“[Both] are […] challenging institutions to change their practices, to become more aware about the continuities of colonialism and the kind of violent practices that they engage in and how important it is to really address them. “

Im Kontext der Tätigkeiten der BARAZANI.berlin, erwähnt hn lyonga auch die Zusammenarbeit mit Bündnissen wie beispielsweise der Coalition of Cultural Workers Against the Humboldt-Forum (CCWAH).

Bei der CCWAH, handelt es sich um “ein offenes und stetig wachsendes Bündnis von Kulturschaffenden mit Sitz vor allem in Berlin.“

Die CCWAH bildete sich als Reaktion gegen die Öffnung des Humboldt Forums. Die CCWAH erklärt: „Während andernorts in der Welt Kolonialdenkmäler gestürzt wurden, wurde das rekonstruierte Berliner Schloss Ende Mai 2020 mit einem goldenen Kreuz samt Reichsapfel „gekrönt“. Dieser Moment war der Auslöser für die Gründung der CCWAH.“

Westliche Museen des 21. Jahrhunderts

Zu der Frage, ob Moderne Westliche Museen des 21. Jahrhunderts überhaupt so weiterbestehen sollten, wenn man bedenkt, dass die Vermächtnisse der meisten Museen in gewaltsamen kolonialen Praktiken verwurzelt sind und die ausgestellten Artefakte hauptsächlich geplündert sind, antwortet hn lyonga, dass es

„Museums as they are, in the 21st century [are] problematic. It is problematic until they start addressing the real issues, they start addressing the potential return of looted art.“

Zudem, betont hn lyonga mehrmals, dass ein Perspektivenwechsel in Bezug auf die in Museen präsentierten „Objektive“ zentral ist. Diese „Objekte“ seien zugleich „Subjekte,“ also tiefgründige Teile der aktiven Kultur, Religion und Geschichte ihres Herkunftsortes. Dies verdeutlicht er am Beispiel der Statue der Göttin „Ngonnso“ welche sich im Kamerun-Saal, des Ethnologischen Museums im Humboldt Forum befindet, und der jahrelangen Protestarbeit, die auffordert diese an den Heimatsstamm in Kamerun zu restituieren.

Auch bezüglich des Humboldt-Forums und den Statements welche höchstwahrscheinlich als Reaktion auf die Debatte über Restitution und Dekolonisierung verfasst wurden, äußert sich hn lyonga bedenklich über den Sprachgebrauch. Die indirekte und distanzierte Artikulation, vor allem in den Statements unter „Colonialism and Coloniality,“ seine problematisch, da Ansätze zu Problemlösungen nicht direkt angesprochen werden und in die Zukunft versetzt werden. Natürlich sollte man aber nicht vergessen, dass das Humboldt-Forum auf Druck Fortschritte in Bezug auf die Restitution bestimmter Artefakte macht.

#DEFUNDtheHumboldtForum: Eine Anti-koloniale Kampagne seit Juli 2021

Auch bezüglich der Besitzgeschichte der Objekte werden nur wenige konkrete Angaben zu ihrer Beschaffung gemacht. Abgesehen davon, dass die Infokarten in Karteikartengröße sind und man sich ihnen nicht nähern kann, ohne dabei einen lauten Alarmton auszulösen, sind diese Angaben hinsichtlich der Provenienzforschung, die für die Aufarbeitung von Objekten aus kolonialen Kontexten fundamental ist, mangelhaft. In der Kunst- und Kulturwissenschaft wird unter Provenienzforschung verstanden, die Herkunft und den Besitzwechsel von Kunstwerken und Kulturgütern nachzuforschen und öffentlich zu machen. Die Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy schreibt dazu 2017:

„Die Provenienzforschung ist historische Wissenschaftsforschung. Sie gilt der Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit und ist für die Museen das, was für die Dresdner Bank oder Daimler-Benz die Aufarbeitung ihrer Unternehmensgeschichte im Dritten Reich gewesen ist: die Erfüllung einer historischen Verantwortung, die Selbstbefreiung von allzu bequemen Mythen und ein Akt des Anstands gegenüber den Opfern und Nutzern ihrer Sammlungspolitik.“

Der Bericht über die Restitution afrikanischer Kulturgüter

Für Savoy ist Provenienzforschung daher auch ein Schritt, der vor Restitutionsvorhaben geschehen muss. Sie war Co-Autorin des einflussreichen Berichts über die Restitution afrikanischer Kulturgüter, den sie mit dem senegalesischen Schriftsteller und Wirtschaftswissenschaftler Felwine Sarr zusammen verfasste. Der Bericht wurde erstmals auf der Website http://restitutionreport2018.com im November 2018 in der Originalfassung sowie als englische Übersetzung veröffentlicht. Vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron in Auftrag gegeben, wird die Restitution von afrikanischem Kulturerbe aus öffentlichen Sammlungen in französischen Museen thematisiert. Der Auftrag dieses Berichts markiert einen Paradigmenwechsel in dem Umgang mit der Kolonialgeschichte, da Frankreich nicht nur den gewaltvollen Akt des Kolonialismus anerkennt, sondern auch eine tatsächliche Rückgabe von geraubtem Kulturerbe zugesichert wird. Daher stieß der Bericht auch global Debatten über die Dekolonisierung von Museen an.

So steht außerdem die Frage im Raum, wie die Zukunft von ethnologischen Museen aussieht und was Ausstellungsthema sein sollte. Sollen es Objekte sein, die mit mehr oder weniger Kontext für sich selbst stehen? Oder sollten Kolonialismus und Eurozentrismus selbst in Museen thematisiert und hinterfragt werden?

Hannah Mason-Macklin, Engagment Managerin am Columbus Museum of Art, gibt in diesem TED-Talk eine Einführung über die Dekolonisierung von Ideen und die Wichtigkeit neue Perspektiven zuzulassen.

“Alle Museen stehen vor der Frage, welche Strategien sie jetzt suchen. Manche davon werden sich einbürgern, über andere wird noch gestritten”, sagt auch Sandra Schürmann. Sie ist Historikerin und kuratierte gemeinsam mit dem Philosophen Christopher Nixon die Ausstellung “Grenzenlos. Kolonialismus, Industrie und Widerstand”, welche von September 2020 bis Juli 2021 im Museum für Arbeit in Hamburg stattfand. Ziel der Sonderausstellung war, die koloniale Geschichte der Industrie Hamburgs sichtbar zu machen und an die Debatte über den Umgang mit den langfristigen Folgen kolonialer Herrschaftsstrukturen anzuschließen.

Schürmann berichtet, dass sie und Nixon vor allem während der Kuration eine starke Lernkurve hingelegt hätten: “Die Frage, wie man eine Ausstellung eigentlich diskriminierungssensibel gestalten kann, durchzieht das ganze Projekt. Sie betrifft nicht nur das Produkt, sondern vor allem die Arbeit auf dem Weg dahin“. Laut Schürmann gibt es zwei Ebenen, auf denen diese Frage beantwortet werden kann. Auf der ersten Ebene gehe es um den Entstehungsprozess einer Ausstellung, die Frage wer das Konzept entwerfe, wer mitarbeite, wer dabei mit einbezogen werde. Es gehe um Repräsentation und dabei sei nicht nur theoretische, sondern auch praktische, gelebte Expertise relevant. “Vor allem wenn es um Themen wie rassistische Diskriminierung geht, sollten die Teams der Kurator*innen nicht nur aus weißen Menschen bestehen”, betont Schürmann. Kommunikation mit und Repräsentation von Expert*innen aus BIPoC-Communities sei selbstverständlich unerlässlich, wenn ein angemessener Umgang mit der kolonialen Vergangenheit angestrebt werde.

Die zweite Ebene beziehe sich auf kuratorische Strategien: die Frage, welche Objekte gezeigt werden, welche Sprache verwendet und welches Publikum wie adressiert werde. Ein Beispiel dafür sei die Diskussion darüber, wie mit rassistischer Sprache oder Gewaltdarstellungen in historischen Quellen umgegangen werde. Eine mögliche Lösung könnte das teilweise oder vollständige Ver- beziehungsweise Abdecken der Begriffe sein. Ersteres war in „zurückgeschaut looking back – Die Erste Deutsche Kolonialausstellung von  1896 in Berlin-Treptow“ der Fall, eine Ausstellung, auf die im weiteren Verlauf des Textes noch eingegangen wird. In „Grenzenlos Kolonialismus, Industrie und Widerstand“ erfolgte eine sichtbare Abdeckung der Begriffe, sodass der ein Erschließen der Begriffe aus dem Kontext möglich ist, die Worte letztendlich aber nicht les- oder sichtbar waren. 

“Bezüglich Gewaltdarstellungen haben wir uns ebenfalls entschieden, diese explizit nicht zu zeigen”, erzählt Schürmann. Stattdessen wurden schwarze Flächen aufgehängt und mit einer Bildunterschrift versehen. “Unsere Strategie war zu sagen, dass wir wissen, dass es die Bilder gibt und dass wir sie gesehen haben, aber dass wir sie nicht zeigen wollen. Denn eine Ausstellung ist ein öffentlicher Raum und in dem soll diskriminierenden Bildern oder Begriffen keine Sichtbarkeit geboten werden.” Die Sichtbarkeit einschränken, aber dennoch die Existenz der Quellen nicht verschweigen, das ist der Sweet Spot, der in der Museumskultur angepeilt werden sollte. Eine Erwähnung jener Seite der Geschichte, die aktuell im öffentlichen Diskurs noch viel zu oft totgeschwiegen oder aus der falschen Perspektive beleuchtet wird, aber dabei keine Reproduktion jener Macht- und Denkstrukturen, die im Kolonialismus existierten. “Die Strukturen müssen durchreflektiert werden”, betont auch Yolanda Gutiérrez Bobadilla. Die Tänzerin, Videokünstlerin und Kuratorin choreographiert seit fünf Jahren die Projekte URBAN BODIES PROJECT und DECOLONYICITES, dekolonisierende Audio-Walks mit Tanzinterventionen durch Hamburg. Zudem ist sie beteiligt an der Entwicklung der Ausstellung “Macht. Mittel. Geld. Image as Currency? Currency as Image!” im Museum für Hamburgische Geschichte. Sie betont, wie wichtig es ist, Zusammenhänge zu beleuchten, wie zum Beispiel jene zwischen Kolonialismus und Rassismus. “Was im öffentlichen Raum fehlt, ist eine Erwähnung der anderen Seite der Geschichte.” Ein großes Spektrum an Bildung müsse noch geschaffen werden: in der Schule, in der Uni, aber auch in der Arbeitswelt und generell im öffentlichen Raum. Ideen dazu, wie das geschehen kann, hat Gutiérrez Bobadilla viele. “Gegendarstellungen sind wichtig!”, sagt sie und aus ihrer Stimme klingt Tatendrang durch. “Nicht nur temporäre, sondern vor allem auch permanente. Wir müssen Orte schaffen, an denen Diskussionen und Panels stattfinden können!”

Es geht darum, die Thematik verstärkt in einem öffentlichen Diskurs anzugehen. Als Beispiel dafür nennt Gutiérrez Bobadilla die Diskussion ums Bismarck-Denkmal im Alten Elbpark in Hamburg, gegen dessen Sanierung für 8,9 Millionen Euro im Jahr 2020 stark protestiert wurde. “Damit, es einfach nur abzubauen ist es nicht getan, schließlich stellen Artefakte auch Machtstrukturen dar”. Wichtiger sei, einen Diskurs zu starten und unsere Denk- und Sichtweisen zu hinterfragen, “denn wenn wir einfach nur Dinge entfernen, wird sich am Mindset der Gesellschaft nichts ändern.

Mit einem Perspektivwechsel beschäftigt sich auch das Kulturprojekt Dekoloniale. Es existiert seit 2020 und ist ein vom Bund finanziertes Projekt. Auf der Website ist zu lesen, dass die Kulturstiftung des Bundes sich auf zwei Teilprojekte konzentriert. Zum einen wird eine Website angeboten, auf der es verschiedene interaktive Elemente zur „Dekolonialen Kartierung“ gibt. Virtuell zu besuchen sind Akteurinnen und Akteure des Kolonialismus, sowie Kolonisierte und deren Nachfahren. Außerdem werden Institutionen und Organisationen mit kolonialer Funktion (z.B. Behörden, Unternehmen, Museen, Gesellschaften) gezeigt und kritisch beleuchtet, aber ebenso antikoloniale und antirassistische Ereignisse und Unternehmungen thematisiert. Auch Objekte aus kolonialen Kontexten, insbesondere aus deutschen Museen- und Universitätssammlungen, sind zu sehen. Ein virtueller Besuch ist auch zu Erinnerungsorten möglich, wie etwa zu Denkmälern, Gedenktafeln oder Straßennamen, die mit der Glorifizierung von Kolonialismus oder mit Ereignissen und Figuren des Widerstands verbunden sind. Zuletzt bietet die Website auch Stadtrundgänge mit lokalen Bezügen an, wie etwa zur Veranstaltung von „Völkerschauen“, die in Hamburg, Berlin oder in Stuttgart stattfanden. Zudem werden Stadtführungen unter einem gemeinsamen Thema angeboten, wie globaler Sklavenhandel, der in Berlin-Mitte oder Hamburg eine eigene Rolle spielte. Der Großteil dieser Arbeit beruht auf intensiven Lokalrecherchen zivilgesellschaftlicher Initiativen, die aus dem Um- und Inland zusammengetragen wurden – aus Namibia, Kamerun, aber auch aus Hamburg, Augsburg, Freiburg, Erfurt, München oder Bremen.

Interaktive Weltkarte des Kulturprojekts Dekoloniale.

Das zweite Teilprojekt besteht aus verschiedenen Ausstellungen, verteilt auf 3 Jahre, die sich in unterschiedlichen Stadtbezirken mit Berlins Kolonialgeschichte und ihren Nachwirkungen bis in unsere Gegenwart befassen. Bei der Durchführung und Konzeption dieser Ausstellungen sollte gesondert darauf geachtet werden, dass „die Erfahrungen von Kuratorinnen, Wissenschaftlerinnen und Künstlern mit eigenen biografischen Bezügen zur Kolonialgeschichte in besonderer Weise zur Geltung kommen.“

Seit 2021 gibt es im Bezirksmuseum Treptow eine Ausstellung anlässlich der ersten deutschen Kolonialausstellung 1896. Die erweiterte Neuauflage der Ausstellung „zurückgeschaut | looking back“ beschäftigt sich mit der Geschichte der exotisierenden Zuschaustellung von Menschen aus deutschen Kolonien im Rahmen einer „Völkerschau“, die mit einer „Leistungsschau des deutschen Kolonialwesens“ verbunden war. Die Initiator*innen der Ausstellung begründen die historische Relevanz dieses auch in anderen europäischen Ländern verbreiteten Veranstaltungstyps, mit der systematischen Geschlossenheit, mit der hier Unterhaltungsindustrie, Politik, Wirtschaft, Anthropologie sowie ethnologische Museen zusammengewirkt hätten. Partnerorganisationen aus Namibia, Tansania und Kamerun wirkten an dem Projekt mit und halfen individuelle Biografien nachzuzeichnen, wie auch Formen des Widerstands sichtbar zu machen, mit denen einzelne Zuschaugestellte sich gegen Zumutungen und Gefährdungen zur Wehr setzten. Dabei wird auch die doppelte Bedeutung des Ausstellungstitels deutlich: einerseits der zeitliche Rückblick auf die Berliner Kolonialgeschichte. Andererseits werden die Menschen der Völkerschau in den Mittelpunkt gestellt und deren Erlebnisse hervorgehoben, wie zum Beispiel der Kameruner Kwelle Ndumbe, der mit einem Opernglas zurück auf die deutschen „Zuschauer*innen“ blickte.

Beteiligt an der Ausstellungskonzeption waren neben dem Museum Treptow der Verein Berlin Postkolonial e.V., die Bildungsinitiative Each One Teach One (EOTO) e.V, und die Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland (ISD).

Zeitstrahl in der Ausstellung "zurückgeschaut" im Museum Treptow.

Die Ausstellung im Museum Treptow nimmt einen Flur und drei Räume ein und steht neben den für deutschen Heimatmuseen bekannten historischen Klamotten und Werkzeugen aus der Region. Bei Betreten des Flurs wird zunächst etwas über die Ausstellung an sich erzählt, über die Entstehung und die grafischen Mittel. Unter anderem wird hier mit verschiedenen Schriftarten gearbeitet, einerseits das Shu-Mom Alphabet der Banmou aus Kamerun, andererseits Schriftzeichen des afrofuturistischen Graffiti-Künstlers Rammellzee. Durch die Verdeckung einiger Wörter, beispielsweise aus kolonialen Kontexten und den hervorhebenden Schriftzeichen an anderer Stelle kommt es zu einer Wahrnehmungsveränderung. Bei Besuch der Ausstellung wird so jedes durchgestrichene Wort hinterfragt und es erfolgt eine Sensibilisierung im Umgang mit zuvor als selbstverständlich wahrgenommenen Wörtern. Als hätte jemand den Text bereits Korrektur gelesen.

In dem langen Flur wird ein Zeitstrahl dargestellt, der aus beweglichen Platten mit Text und Bildern besteht und die verwobene Geschichte von Berlin, Preußen und dem Kolonialismus von 1682/83 bis zum heutigen Zeitpunkt präsentiert. Die erste Völkerschau 1896 in Treptow nimmt einen großen Teil des Zeitstrahls ein und ist letztendlich auch das zentrale Thema der Ausstellung. Die Ausstellung schafft es unserer Meinung nach hier den Blick weg von einer eurozentristischen Betrachtung der Geschichte zu lenken und insbesondere die Perspektive der Kolonisierten auf das geschehene Unrecht zu thematisieren, aber auch dem Widerstand gegen dieses Unrecht eine neue Wirksamkeit zu geben. Der Zeitstrahl endet in dem mittleren der drei Räume in der heutigen Zeit und zeigt so mit Nachdruck, wie lang der Diskurs über Kolonialverbrechen und deren Überbleibsel in Berlin, beispielsweise in Bezug auf Straßennamen und Statuen, von Initiativen geführt wurde und wie vehement der Druck der Öffentlichkeit zunehmen muss, um Veränderungen zu bewirken. Am Beispiel des Humboldt-Forums sieht man hier, dass die Kritik an der Darstellung von “Kolonialschätzen” bereits seit Anfang des Projekts (der Bau wurde 2002 im Bundestag beschlossen) besteht, das Humboldt-Forum aber erst weit nach der Eröffnung im Jahr 2020 auf die Kritik reagierte und die Ausstellungskonzepte überarbeitete.

Ein Flur mit rotem Boden, Blick auf eine offene Tür. Am rechten Bildrand ist eine Zeitleiste mit weißen Karten zu sehen. im Vordergrund ist die Jahreszahl 1896 zu erkennen.
In der rechten Bildhälfte ist eine Glastür mit Holzrahmen zu sehen. Dahinter steht an der Wand: zurückgeschaut. looking back. In der linken Bildhälfte ist ein Zeitstrahl mit weißen Karten zu sehen. Die Jahreszahlen 2017, 2019, 2021 zu lesen

Der beeindruckendste Teil und Herzstück der Ausstellung ist jedoch der letzte Raum. Dort werden keine allgemeinen historischen Fakten mehr vermittelt, stattdessen hängen an allen vier Wänden Portraits von den Menschen, die 1896 teilweise freiwillig, aber auch unfreiwillig zur Völkerschau nach Berlin kamen. Aufgrund des Mangels an anderen Fotos wurden die Aufnahmen, die bei Ankunft in Berlin von den Menschen gemacht wurden, recoloriert, freigestellt und mit den Namen versehen. Für die Personen, die 1896 eine Aufnahme verweigerten, wurde ein leerer Rahmen aufgehängt und der Name genannt, so wird ebenfalls ein Widerstandsmoment gegen die Völkerschau deutlich gemacht. Weiterhin kann in Heften, welche die Besucher*innen aus einem Kasten in der Mitte des Raums ziehen können, etwas über die Biographie der Menschen nachgelesen werden. Dies stellt ein weiteres interaktives Element der Ausstellung dar und bietet zudem Überraschungen, da die Hefte nicht beschriftet sind und man vorher nicht weiß, welche Biographie man gleich in der Hand hält. Die Ausstellung schafft es hier wiederum einen persönlicheren Zugang über die individuellen Lebensgeschichten der Menschen zu schaffen.

Ausstellungsraum. Auf schwarzen Wänden sind Portraits und Text zu sehen.

Natürlich sind das Museum Treptow und das Humboldt-Forum nicht einfach so miteinander vergleichbar, allein aufgrund des massiven Größenunterschieds. Von den Baukosten des Humboldt-Forums wurden insgesamt 532 Millionen Euro vom Bund und 32 Millionen von der Stadt Berlin gezahlt. Es befindet sich in Berlin Mitte und wurde bereits vor der Eröffnung als Touristenmagnet beworben. Das Museum Treptow dagegen ist ein Stockwerk im ehemaligen Rathaus Johannisthal, die Ausstellung zurückgeschaut füllt einen Flur und drei Räume. Über die Kulturstiftung des Bundes und die Senatsverwaltung für Kultur und Europa Berlin wurde das Kulturprojekt Dekoloniale als Träger für die Ausstellung ebenfalls gefördert, die Summe dürfte aber deutlich unter der des Humboldt Forums liegen. Während unseres Besuches waren wir die einzigen Besucher*innen. Laut den Angaben des Museumsmitarbeiters, sind zudem die meisten Besucher*innen im Rahmen eines Seminars oder Schulausflugs dort. Den meisten Berliner*innen und auch Tourist*innen ist also wahrscheinlich gar nicht bewusst, dass diese Ausstellung existiert, was auch an den mutmaßlich geringen Geldern für groß angelegte Werbekampagnen und dem weiten Fahrtweg liegen dürfte. Doch alleine diese Unterschiede sind bezeichnend, denn es erweckt den Eindruck, dass eine Ausstellung, die sich aus Perspektive Kolonisierter mit den Verbrechen der deutschen Kolonialmacht beschäftigt, nicht wichtig genug für den Standort Berlin Mitte zu sein scheint. Außerdem sucht man im Humboldt-Forum weitestgehend vergeblich nach kritischen Äußerungen über die Beteiligung am transatlantischen Sklavenhandel. Letztendlich wird man in einem Flur außerhalb der Ausstellung fündig. In dem Beschriftungstexten von Statuen von Kurfürst Friedrich Wilhelm und seinen Vorfahren wird schließlich beschrieben, dass das Herrscherhaus “Über Handelsstützpunkte im heutigen Ghana […] zwischen 1683 und 1717 von der Versklavung Schwarzer Menschen [profitierte].” Eine fragwürdige Entscheidung, diese Information in einem Nebensatz neben den Marmorstatuen der Hohenzollern-Fürsten zu präsentieren. Marmorstatuen, die eben diese Fürsten zu ihrer Zeit in Auftrag gegeben hatten, um ihre Macht darzustellen.

Blick auf drei Marmorstatuen. Im Hintergrund eine Glastür
Beschriftung der Statue. Überschrift: Geschichte des Ortes. History of the Site. Kurfürstenstatue aus dem berliner Schloss von Friedrich Wilhelm, angefertigt von Bartholomeus Eggers, 1686-1688. Text: Friedrich Wilhelm gab die hier aufgestellten Statuen von sich und seinen Vorfahren in Auftrag. Überlebensgroß und in Herrscherpose schmückten die Marmorstatuen den neuen repräsentativen Hauptsaal des Berliner Schlosses. Mit diesem Figurenprogramm wurde der Alabastersaal zur Ruhmshalle der Dynastie: Die Reihe aller brandenburgischen Kurfürsten sollte Rang, Würde und Kontinuität der Hohenzollern als Kurfürsten des Heiligen Römischen Reichs deutlich machen. Als erster deutscher Fürst betrieb Friedrich Wilhelm Kolonialpolitik in Afrika. Über Handelsstützpunkte im heutigen Ghana profitierten er und seine Nachfolger zwischen 1683 und 1717 von der Versklavung Schwarzer Menschen.

 

Im Gegensatz zu dieser Darstellung, werden im Museum Treptow weder deutsche Kolonialbeamte präsentiert, noch Objekte ausgestellt, die vom deutschen und europäischen Kolonialismus zeugen. Stattdessen sind Kolonialismus und Rassismus selbst die Ausstellungsthemen. Es geht um Menschen, die sonst nur als Nummern oder namenlose Objekte behandelt wurden und werden, deren Gesichter und Biographien dort gezeigt werden und so auch ihr Widerstand gegen die Völkerschau in Berlin 1896. Es wird deutlich gemacht, dass diese Menschen nicht nur unterworfene Opfer sind, sondern Individuen mit eigenem Willen und Handlungsfähigkeit. Somit ist die Ausstellung „zurückgeschaut | looking back“ ein prägnantes Beispiel für ein beginnendes Schaffen von Standards bezüglich Diskriminierungssensibilität in der Museumslandschaft. 

Erstrebenswerte Maßstäbe versucht auch der Deutsche Museumsbund zu etablieren, der seit 2018 regelmäßig einen Leitfaden zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten veröffentlicht. Dieser Leitfaden fasst Perspektiven, Begriffserklärungen und Kategorisierungen zusammen, um einen Versuch zu starten, die Rolle des Museums als kolonialer Ort aufzubrechen.

Ein weiteres spannendes Beispiel für eine kritische Auseinandersetzung mit der Thematik ist die Arbeit der Seite “Kolonialismus begegnen”, die dezentrale Perspektiven auf die Berliner Stadtgeschichte vorstellt. Nach Bezirken geordnet lassen sich nicht nur Beiträge zu Postkolonialismus und Dekolonialisierung finden, sondern auch zu weiteren Themenkomplexen, wie Migration, Widerstand oder Erinnerungskultur.

Doch trotz Initiativen und Maßnahmen wie diesen, muss festgehalten werden, dass die angestrebten Standards bisher nicht in angemessen erforderlichem Maß in der Museumslandschaft angekommen sind, sondern aktuell noch einen eher nischenhaften Utopiecharakter besitzen. Immerhin begann in den letzten Jahren zumindest schrittweise die Entwicklung eines Bewusstseins. “Wir werden nicht wieder zurückgehen zu dem Stand, wo weiße Kurator*innen einfach sagen: Ich find das Bild aber wichtig und deshalb kommt das jetzt an die Wand und mein Publikum, egal ob weiß oder BIPoC muss eben gucken”, sagt auch Sandra Schürmann.

Die zentralen Fragen innerhalb, aber auch außerhalb der Ausstellungskultur sind also: Was wollen wir repräsentieren? Was wollen wir dokumentieren? Welchen Aspekten wollen wir Sichtbarkeit verschaffen? Oberstes Credo an dieser Stelle ist Diskriminierungssensibilität: Es geht darum Diskriminierung nicht zu reproduzieren, sondern stattdessen ihre Existenz wahrzunehmen und kritisch und reflektiert darauf einzugehen.