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Likes, Klicks, Provokation – Was ein Musikvideo erfolgreich macht

Das Musikvideo ist längst nicht mehr das chaotische, willkürliche TV-Format der 80er/90er Jahre. Es ist mittlerweile zu einer ernstzunehmenden Gattung herangereift, die medial breit aufgestellt und in seiner globalen Wirkung nicht zu unterschätzen ist.

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Ob es Toni Watson, die australische Singer/ Songwriterin des Charts-Erfolgs Tones and I – Dance Monkey (2019) ist, die einen Song, ja, sogar ihr ganzes Album The Kids Are Coming (2019) nennt und sich damit der „Fridays for Future-Bewegung“ zumindest symbolisch anschließt; ob es Donald Glover mit Childish Gambino – This is America (2018) ist, der in seinem Video ein regelrechtes Massaker an der US-Politik veranstaltet und damit wildes Deutungsfeuer entfacht; oder ob es die drei Schwestern, der Band A-WA sind, die, durch ihren Song Habib Galibi (2016), den ersten arabischen Nummer-Eins-Hit in Israel landeten.

Tones & I , Childish Gambino und A-WA
Tones & I , Childish Gambino und A-WA

Das Musikvideo hatte schon immer großes Potenzial seine ZuschauerInnen in den Bann zu ziehen; zu bewegen, politisch, gesellschaftlich und emotional. Heute um so mehr! Manche Musikvideos verbreiten sich online virusartig über den ganzen Planeten und veranlassen, dass möglicherweise die halbe Menschheit dieses Video gesehen hat. Grund genug, genauer hinzuschauen:

Anfang 1986 wurde Michael Jackson’s „Thriller“ rund 750.000 Mal verkauft und soll bis heute das meistverkaufte Musikvideo der Welt sein. Die aufwendigen Kostüme, die spektakuläre Tanzperformance, die Story eines Kurzfilms machten dieses Musikvideo zum absoluten Muß der damaligen Zeit. Wie oft es gesehen wurde kann nicht ermittelt werden. Aber ein einziges Kind allein, schaute sich ganz sicher den Moonwalk 100te Male am Tag an, um ihn selbst zu versuchen. Man fragt sich nur, warum und wie die heutigen Videos an die Spitze der Statistiken gekommen sind und mit „Thriller“ ebenbürtig sein sollen.

Abspiel- und Klickzahlen sind heute bares Geld wert. „Despacito“ wurde Anfang 2017 veröffentlicht, knackte mit sechs Milliarden Aufrufen den Rekord und darf sich jetzt meist gesehene audiovisuelle Datei der Welt nennen. Binnen der ersten 24h nach Veröffentlichung auf Youtube war der Clip mit 5,1 Millionen Aufrufen das beliebteste spanisch-sprachige Video. Doch was wird dort gezeigt um so erfolgreich zu sein? Das Video ist im Barrio La Perla und der Bar La Factoria in der Altstadt von San Juan, Puerto Rico gedreht worden. Die Lebenskultur, die Landschaft, das posierende Model Zuleyka Rivera und die lateinamerikanische Tanzkultur sind Hauptbestandteile der Story, neben der Darstellung der Sänger. Carlos Perez, der Regisseur und Kameramann könnte man als ein „No-Name“ bezeichnen. Das Lied allein erinnert an Nicky Jam, Thalia oder Enrique Iglesias und wäre ein typischer One-Hit-Wonder eines Sommers. Es blieb aber nicht dabei. Was ist das Geheimrezept? Denn Daddy Yankee’s bisherige Videos mit ähnlichen Stilmitteln, „Made for now“, „Limbo„, „Dura„, generierten nicht im Ansatz so viele Klicks.

Tanzszene in „Despacito“

Die Fusion aus Latin-Pop und Reggaeton ist sicher ein Tanzgarant, die Models und TänzerInnen animieren auch es wiederholt anzuschauen. Aber 6 Milliarden mal?? Daddy Yankee zeigt sich in der oft platzierten heteronormativen Art, im Machismus, was auch nicht der Grund sein kann, warum das Video so beliebt ist. Aber eine Szene, die eines Tanzpaars, macht uns stutzig. Wir wollen die Szene nochmal sehen. Denn sie zeigt eine Frau, welcher die Hüfte ihres Tanzpartners so dermaßen zwischen die Beine gestoßen wird, dass es nach Schmerzen aussieht. Zurecht würden FeministInnen aus aller Welt diese Darstellung der Frau kritisieren. Nicht nur die: Die malaysische Regierung boykottiert diesen Song sogar und verbietet den Radiosendern das Lied mit misogynistischen Aspekten zu spielen, wie die AFP berichtet. Wenn solche Szenen dafür sorgen, dass Videos an die Chartspitze katapultiert werden und den Online-Surfern durch die hohen Klickzahlen Qualität suggerieren, ist das eine alarmierende Entwicklung, die bewusst gemacht werden sollte.

Aber nicht nur das: Es scheint überhaupt kein Problem zu sein, durch soziale Medien Klickzahlen zu kaufen, wie es, Ilhan Coskun des Y-Kollektiv in der Reportage „Der Rap Hack: Kauf Dich in die Charts! Wie Klickzahlen manipuliert werden“ selbst ausprobiert.

Y-Kollektiv – „Der Rap Hack: Kauf Dich in die Charts! Wie Klickzahlen manipuliert werden“

Auch Plattenlabels wie Warner analysieren die heutigen Videoplattformen genau und stellen sich gezielt darauf ein, hier ihre Künstlerprodukte zu platzieren, um an die Spitze der Verkaufszahlen zu kommen.

Künstlerüberblick von Warner Music Germany

2008 war der Youtube-Kanal der Universal Music Group mit fast drei Milliarden Aufrufen monatlich das präsenteste Musik-Label auf Videoplattformen und VEVO der meist gesehene Youtube-Kanal weltweit. Heute sind Plattenfirmen mit den digitalen Abspielformen, der Streaming-Dienste iTunes, Spotify und Soundcloud eng vernetzt. Der größte Zusammenschluss der Musikindustrie stellt VEVO (Sony Music Entertainment, Universal Music Group, EMI Music, Abu Dhabi Media Company) dar, welcher die Musikvideoinhalte der wichtigsten Künstlergruppen seit 2009 verwaltet und in Zusammenarbeit mit Google, Youtube, AOL und Yahoo flächendeckend zur Verfügung stellt. Mittels Werbeclips oder kostenpflichtiger Apps entwickeln sich Musikvideos jetzt erneut zu einem rentablen Geschäft. Die Musikindustrie schöpft also auch ohne Manipulation wieder aus dem Vollen, wie Alan Price, der Geschäftsführer von VEVO auf der Firmenwebseite deutlich verlauten lässt.

Wir treffen William Veder, freiberuflicher Designer, Fotograf, Musikvideoproduzent und Bandmember bei FlowinImmo/ et les FREAQZ aka Freaks Association Bremen an einem verregneten Montagnachmittag in Berlin-Kreuzberg. Der Kaffee dampft vor unseren Nasen auf dem Küchentisch. Musikvideos wurden dem, in den 70ern geborene Bremer so richtig bewusst seit Michael Jackson’s „Thriller“-Video. Das ließ er sich auf VHS zu schicken, weil es noch kein Kabelfernsehen gab, errinnert er sich. Eins wird schnell klar: Besonders die ästhetische Komponente hat es ihm angetan. Das reicht sogar so weit, dass er, gar keine Musik braucht, um sich für ein Musikvideo zu begeistern. Die visuelle Ebene ist es, die ihn reizt.

Um das ganze Interview zu hören bitte unseren Soundcloud-Player starten:

Ein Musikvideo ist ein audiovisuelles Medium, was konzeptionelles Tonmaterial mit Bildmaterial verbindet, um Musiker und dem Musikstück zur Bekanntheit zu verhelfen. Was aber genau schafft Mehrwert, den ein Werk durch die Öffentlichkeit erhält um sich dann erfolgreich zu nennen?

Veder: Du mußt zum Beispiel so abgefahrene One-Take-Geschichten machen wie OK-GO! Ein One-Way-Parkour, wie in „The One Moment“ aufbauen, wo du denkst hä, das kann doch eigentlich gar nicht sein, oder so eins in der Schwerelosigkeit, wie für „Upside down /Inside out„. Das abgefahrendste ist „Needing/Getting“, Das mit dem Sportwagen, mit dem sie durch eine wüstenähnliche Gegend fahren und mit der Karosse des Wagens, an dem verschiedene Fliegenklatschen hängen, ihren Original-Sound produzieren. Während des Vorbeifahrens! Wenn die nicht diese Videos hätten, wäre die Band nicht bekannt und gehypt worden, denke ich, ohne die Musik schlecht zu machen.

Veder: Es ist auch gut, wenn man irgendwo eine Kooperation hat um so etwas möglich zu machen oder in Musikblocks auftaucht, Tonspion oder laut.de. Natürlich ist auch wichtig heutzutage auf Spotify, iTunes und Youtube platziert zu sein, weil du dich als Künstler eben selber krass vermarkten kannst und mußt, wenn du erfolgreich sein willst. Das Label Chimperator war früher ganz klein und Cro-„Easy“ ging dann steil durch die Decke. Das ganze „Mixtape“ war ‚for free‘. Das konntest du einfach umsonst runter laden. Da gab es nicht mal ein Video dazu. Und erst dann, als die Musik verkauft wurde, ist auch das Video in den Charts auf Nummer Eins gegangen. Durch eine ansprechende Ästhetik, eine geile Idee, eine gute Vernetzung in den sozialen Medien, Streamingdienste, Playlists, Radio… Ich glaub übers Radio gehts auch noch. Da kann der Konsument Neues entdecken. Man schaut im Nachhinein dann die Videos, die visuelle Ebene der Bands an, wie bewegen die sich, was haben die für ’ne Attitude, wie sehen die so aus, wie ist so der Habitus, die Mimik, die Gestik. Das gibt nochmal eine zusätzliche Ebene, die Band zu fühlen und zu erfahren. Ich denke, dass ist ausschlaggebend für den Erfolg.

Mit der Musik von Rammstein kann ich gar nichts anfangen. Ich würde noch nicht mal auf ein Konzert gehen, ich würd auch den Ton ausmachen und nur das Video angucken.

Oder provoziert? So wie politische Songs von Childish Gabino – „This is America„. Der bekam sehr viel Aufmerksamkeit durch die Schlagkraft seiner Bilder, ohne Skrupel einen singenden Gospelchor nieder zu ballern. Muß sowas für den Erfolg sein? Und ebenso, zwar anders, aber ebenso „Abgrundtiefschlechtes“ Capital Bra – „Cherry Lady“ oder Robin Thicke – „Blurred Lines“. So etwas ist erfolgreich durch negative Punkte, oder?

Veder: Provozieren funktioniert doch immer. Ich erinnere mich noch an „Cop Killers“ – Ice T. Diese ganze Platte, die war so provokativ gegenüber den Polizisten in Amerika, von der schwarzen Community aus, um auf ein Problem aufmerksam zu machen. Ja, es muß krass sein! Nur mit „Halleluja“ kommst du nicht an Tisch der Polit-Elite. Bei „Cherry Lady“ provozierst du damit, dass du mit Modern Talking zusammen auf Instagram irgendwas klar machst. Jeder will vom Anderen profitieren. Man ist unter den erfolgreichen Leuten, tauscht was aus und auf einmal hast du diesen Song den jeder kennt, weil der Künstler eh schon bekannt ist. Wenn du einmal die Maschine angeworfen hast, dann kannst du auch bißchen das reinwerfen, was du willst und es wird gefressen. Es wird gar nicht mehr so kritisch beäugt. Und dieses „Blurred Lines“, der Text ist einfach krass sexistisch, dass es dann heißt „Hier, kennst du schon den..?“ Viele finden sowas halt auch cool. Die machen sich darüber keine Gedanken.

Veder: Wenn ich jetzt so an die erste Rammstein Single denk, „Du hast“, da dacht ich auch, ok, was ist das für ne Nummer?! Das spielt mit so ganz komischen Symbolen und Elementen, die man auf vielen Ebenene entschlüsseln muss, welche darauf abzielen zu provozieren. Jetzt das neue Ding, „Deutschland“ von der Regie-Legende Specter ist ein Video-Meilenstein, worauf ich wirklich wie zu MTV-Zeiten gewartet habe um es endlich zu sehen. Wenn Eric Remberg ein Video macht, weißt du, es wird krass und es steckt viel Geld drin! Der hat auch so Miss Platnum – 99 Probleme gemacht. Sieht immer ziemlich schick aus. Auch für Swiss und Die Andern hat der Videos gemacht, welche auch so geil provokativ sind und ich mega gut finde.

Die erste Single muß reinhauen, muß am Lautesten sein. Oder vielleicht auch die zweite Auskopplung. Aber es muß ‚boom‘ machen, richtig reinschlagen wie eine Granate.

Was könnte Deiner Meinung nach in Zukunft erfolgreich sein oder was glaubst du ist die visuelle Zukunft?

Veder: Ich finds immer komisch zu sagen alles wird 360°, alles wird so ‚augmented reality‘. Visuelle Ebenen werden sich immer irgendwie wiederholen und doch weiter entwickeln, wenn man sich zum Beispiel heutzutage die Rappvideos anguckt. Ufo361 zum Beispiel mischten die Videoästhetik von diesen VHS-Rekordern aus den 90ern und bauten es wieder ein. Was vor 25 Jahren in war kommt wieder. Aber man schneidet eben auf dem Handy und rendert keine 48h für drei Minuten Video. Heutzutage kannst du dich ganz einfach über die Adobe Cloud für ein paar Euro einmieten. Sogar ohne gecrackte Software kannst du das lernen und bist dann irgendwie 10-12 Jahre alt und weißt wie man mit Schrift umgeht, wie man krasse Effekte baut, wie man Figuren ausschneidet, wie man einen Greenscreen macht. Na klar, die Leute sind dann 15-16 Jahre alt und halt Pro’s. Wo ich denk, das werd ich in meinem Leben nie mehr lernen! Ich glaube diese Entwicklung wird noch viel stärker zunehmen. Da schlummert sehr viel Potential in den jungen Leuten…

Ufo361 feat. Gzuz – „FÜR DIE GANG“

Was ich mir auch noch gut vorstellen kann, für so eine Zukunftsmusik ist ‚artificial intelligence‘. Das gibt’s in der Musikproduktion mittlerweile ganz häufig. Das man Plugins hat, die sehr viel voraus berechnen und auf eine Art Datenbank zurückgreifen – Was muss ein Song haben, dass er ‚up to date‘ klingt?! Da gibt’s verschiedene Hersteller, die machen das jetzt schon ziemlich gut. Die Plugins regeln alles selbst. Oder so „googledream“-Looks – Montagebilder – aus einem Pool von Bildern künstlich Neues entstehen lassen. So CGI-mäßig, wie es Coldplay in „Adventure Of A Lifetime“ gemacht hat, mit so singenden Affen im Dschungel. Auf jeden Fall crazy abgefahrene Ästhetik wird uns erwarten, wo Stufen der Ästhetik erreicht werden, bei denen man nur staunen kann und denkt, ‚fuck‘, wo und wie ist das gemacht!

Vielen Dank!

Heute stehen Musikvideos jedem mit einem Internetanschluß pausenlos, unendlich wiederholbar, überall auf der Welt zur Verfügung, sofern der Staat den Medienplattformen keine Internetzensur , wie in weiten Teilen Asiens auferlegt. Ein erfolgreiches Musikvideo wird sehr oft angeschaut, oft geklickt, wird gern geteilt und hat mehrdeutige Inhalte, die gesellschaftliche und politische Bühnen betreten um dort diskutiert zu werden. Provoziert und hat Schlagkraft! Je breiter die Splitter fliegen, je vielfältiger die Deutungsmöglichkeit, desto länger, lauter und höher frequentiert ist der Diskurs über den Künstler. Jeder Produzent weiß um visuelle, strategische Elemente, die manchmal einfach scheinen aber von einer breiten Öffentlichkeit entschlüsselt werden können. Produzenten und Künstler allgemein sollten die maßgebliche Wirksamkeit dieser Diskurse begreifen, welche das Potenzial für ein Händereichen vollkommen gegensätzlicher Denkströmungen in sich trägt. Es wäre ein wünschenswertes Bild einer Gesellschaft von morgen. //

Die besten Musikvideo-Analysen auf Youtube:

Datum: 21.01.2020