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Heimat, Familie und die damit verbundenen Gefühle

ein Interview von Juliane mit Charlotte

Wie verändert sich unsere Verständnis von Heimat, wenn wir uns ein neues Zuhause aufgebaut haben? Um zu beantworten, wie junge Menschen sich mit ihrer Heimat und ihrer Familie verbunden fühlen, spricht Juliane mit Charlotte.

Du bist für dein Studium umgezogen. Wo kommst du her und wo lebst du inzwischen?
Ich bin für mein Studium von Hamburg nach Berlin gekommen. Hamburg ist aber nicht meine ursprüngliche Heimat. Aber das kommt auch ein bisschen darauf an, wie man Heimat für sich definiert, denke ich. Ich bin ursprünglich im Westen von Berlin geboren und nach einigen Jahren als kleines Kind noch mit meinen Eltern nach Stuttgart gezogen. Da bin ich dann aufgewachsen und bis 2012 habe ich dort dann auch gelebt und mein Abitur gemacht.


Wie weit ist dein jetziges Zuhause von deiner Heimat entfernt?
Stuttgart ist 633km von meiner jetzigen Wohnung entfernt, also schon ein ganzes Stück. Und das, also meine Familie, würde ich als Heimat bezeichnen. Und ich glaube, das ist dann auch egal, wo die wären.


Wie oft fährst du in deine Heimatstadt, also zu deiner Familie?
Mhhh. Ich glaube, ich fahre so zwei bis vier Mal im Jahr in meine Heimatstadt. Damit würde ich dann Stuttgart meinen. Das mache ich eigentlich meistens nur, um meine Familie zu besuchen, besonders viele Kontakte, so Freundschaftskontakte, habe ich da eigentlich nicht mehr, nur noch so zwei bis drei vereinzelte, und die wohnen selber auch nicht mehr in Stuttgart. Da sieht man sich dann manchmal auch in deren jetzigen Wahlheimaten oder hier in Berlin. Und eben zu den typischen Verdächtigen: Weihnachten, manchmal an Ostern, im Sommer in den Semesterferien bin ich mal Zuhause.


Wie haben sich deine Gefühle zu deiner Heimatstadt verändert, seitdem du weggezogen bist?
Für mich war es immer klar, dass ich noch andere Orte sehen möchte, an anderen Orten heimisch werden möchte und an anderen Orten ein Zuhause finden möchte. Deswegen bin ich auch sofort nach dem Abitur ausgezogen und habe andere Städte erkundet. Mein Verhältnis hat sich im Laufe der Jahre, im Laufe der letzen acht Jahre, so verändert, dass einfach immer weniger an diesem Ort hängt. Es verändert sich immer mehr. Es sind andere Menschen da, es ist einfach nicht mehr dasselbe, wie als man da gewohnt hat, also als ich dort gewohnt habe. Und deswegen verbinde ich auch immer weniger Persönliches mit diesem Ort.

Wo siehst du dein Zuhause in der Zukunft? Kannst du dir vorstellen, zurück zu deiner Familie zu gehen?
Ja und Nein. Ich habe nichts gegen meine Heimatstadt. Sie ist eine tolle Stadt, die vielen Menschen ein Zuhause gibt, wo man gut Kinder großziehen kann, wo es eine gute Infrastruktur gibt, die Menschen sind bestimmt ganz toll. Ich kann mir momentan nicht vorstellen, dort hin zu ziehen, weil es einfach Orte gibt, die mir gerade mehr entsprechen, wo ich mehr das Gefühl habe ich selbst zu sein und wo ich mehr erreichen kann – auf persönlicher und beruflicher Ebene.
Aber wer weiß. Ich glaube, das ändert sich immer noch mal, wenn man irgendwann selbst Kinder hat und die Geschwister selbst Kinder haben und man vielleicht dann seine Familie näher um sich haben möchte. Ich kann mir vorstellen, dass das ein großer Faktor sein kann. Und so ist das meinen Eltern ja auch gegangen. Als sie Kinder bekommen haben, sind sie zurück in ihre Heimat gegangen. Von dem her kann ich mir vorstellen, dass irgendwann dieses Bedürfnis wieder kommt. Ich sehe allerdings grade nicht wirklich einen Vorteil von meiner Heimatstadt gegenüber Berlin, wo ich jetzt wohne. Deswegen jetzt nein, absolut unwahrscheinlich würde ich es nicht nennen.

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Dieses Interview gehört zu dem Artikel „Zuhause fühlen“ und wurde von Juliane Herbst geführt.

Titelbild-Konzept von Juliane Herbst

CLAUDI1

 

Luisa:

Hallo Claudia, vielleicht können Sie sich zu Beginn einfach kurz vorstellen und auch erzählen, wie Sie dazu gekommen sind, sich speziell mit der Gewalt in der Geburtshilfe auseinander zu setzen.

Claudia:

Mein Name ist Claudia Watzel. Ich bin Diplom-Psychologin in Weiterbildung zur Psychotherapeutin. Den Schwerpunkt möchte ich dabei auf Eltern- Säuglings und Kleinkindpsychotherapie setzen. Neben meinem Beruf, würde ich sagen, bin ich Aktivistin für Frauenrechte und insbesondere für Frauenrechte im Kontext Schwangerschaft, Geburt, Wochenbett.

Frauenrechte fand ich einfach schon immer wichtig. Ich bin dann selbst Mutter geworden. Unsere Tochter habe ich zuhause geboren – in einer Geburt, die ich als sehr schön empfand und die im besten Sinne selbstbestimmt war. Im Nachhinein habe ich dann aber mitbekommen, dass viele andere Mütter die Geburt gar nicht so erlebt haben. Und das eine schöne Geburt eher die Ausnahme als die Regel zu sein schien. In dieser Zeit ist mir klar geworden, dass ich meinen Schwerpunkt auf den Bereich Gewalt setzen möchte – mich also gegen diese Gewalt gegen Frauen einsetzen möchte. Das hat letztendlich dazu geführt, dass wir den Verein „Schwere Geburt“ gegründet haben. Dieser Verein setzt sich nun genau dagegen ein: gegen Gewalt gegen Frauen im Kontext von Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett.

Luisa:

Sie sagten „wir“ – an der Vereinsgründung waren noch andere beteiligt?

Claudia:

Ja, einige Aktivistinnen aus Berlin – eine Sozialpädagogin und Geburtsbegleiterin und noch eine Pädagogin.

Luisa:

Sie sagten, sie hätten nach ihrer eigenen Geburt mitbekommen, dass eine schöne Geburt eigentlich eher die Ausnahme als die Regel ist. Warum sprechen aber tatsächlich so wenige Frauen darüber, dass sie Gewalt während der Geburt erlebt haben? Warum weiß die Öffentlichkeit nicht Bescheid, dass es diese Gewalt in der Geburtshilfe gibt?

Claudia:

Warum wird generell so wenig über Gewalt gegen Frauen gesprochen? Betroffene Frauen reden allgemein selten über ihre Gewalterfahrungen. Ich denke bezogen auf die Geburt ist das aber nochmal schwieriger. Das ist zum einen eine besonders sensible Phase im Leben einer Frau, in der es auch gerade nochmal um Neufindung von Identitäten geht. Und zum anderen redet man nicht nur über die Geburt, die man als Mutter hatte, sondern eben auch über die Geburt, die das Kind hatte. Ich glaube, dass es daher nochmal viel schwieriger ist darüber zu reden. Da sind eben noch andere Menschen involviert. Häufig fühlen sich Frauen sogar schuldig, dass sie ihr Kind nicht besser haben schützen können.

Luisa:

Es ist also auch einfach ein langer Prozess für betroffene Frauen, bis sie über das Erlebte reden können.

Claudia:

Ja, und dann wird es häufig noch negiert von der Umgebung. Selbst wenn Frauen versuchen darüber zu sprechen – sei es mit der Wochenbetthebamme, sei es mit Freundinnen, sei es mit der Familie – dann bekommen sie ganz schnell zu hören: „sei doch froh, das Kind ist gesund“. war Und das war tatsächlich schon ziemlich revolutionär, das so zu sagen.

Luisa:

Wenn man bei einer Geburt allein das Wohl des Kindes in den Vordergrund stellt, sieht man die gebärenden Frauen eben gar nicht mehr.

Claudia:

Genau, man sieht die Frau nicht. Manchmal misst man Geburtserfolg an Mütter- und Kindersterblichkeit oder an den dokumentierten Geburtsschäden. Aber auch das ist kritisch zu sehen. Also selbst wenn man die Frau noch sieht, wird der Geburtserfolg reduziert auf das physische Wohlbefinden der Mutter. Außerdem weiß man auch, dass Frauen, die auf dem Papier eine unkomplizierte Spontangeburt hatten, trotzdem ganz häufig damit hadern, eben wie das alles passiert ist. Und zwar nicht nur, weil es um subjektiv erlebten Kontrollverlust geht, sondern: Weil es ganz explizit Gewalt gegen diese Frauen gab. Und das steht eben nicht auf dem Papier.

Luisa:

Es ist wahrscheinlich auch nicht leicht dann als Frau laut zu werden und den Ärzt*innen oder Hebammen zu sagen: „ich hab das, was da drin steht, aber anders erlebt“. Da stehen dann eben auch zwei Aussagen gegeneinander.

Claudia:

Genau, wer hat dann die Definitionsmacht? Und steht in dem Geburtsprotokoll überhaupt alles drin, was tatsächlich passiert ist? Wir wissen auch, dass Frauen berichten, dass bestimmte Handlungen darin eben nicht auftauchen. Sie wissen aber, dass das passiert ist.  Stattdessen hängt da ein seitenlanges CTG im Geburtsprotokoll, während über die Verfassung der Mutter beispielsweise gar nichts gesagt wird.

Als Arzt, Ärztin oder Hebamme ist man immer auf der sicheren Seiten, wenn man sich an bestimmte Leitlinien hält. Diese Leitlinien gibt es auch für den Ablauf von Geburten. Wenn Handlungen von Ärzt*innen oder Hebammen während der Geburt davon abweichen, müssen sie das gut begründen. Da merkt auch ganz schnell, dass es schwierig werden kann, wenn eine Frau sich gegen eine Leitlinienempfehlung entscheidet. Auch das muss dann auf jeden Fall vernünftig dokumentiert werden. Es muss dargelegt werden, dass die Frau vernünftig aufgeklärt haben und das sie es trotzdem will. Ich würde aber vermuten, dass der Druck etwas auf eine bestimmte Art und Weise durchzuführen aufgrund der Leitlinien dann aber noch größer ist.

Leitlinien sind letztendlich aber auch nur Empfehlungen. Und ‚Empfehlung‘ bedeutet nicht, dass das für jede einzelne Frau die beste Entscheidung ist.

Das ist auch ähnlich bei den Mutterschutzrichtlinien. Frauen denken ganz oft, sie MÜSSEN das so machen. Hebammen denken das auch manchmal. Ärzte denken das auch manchmal. Das ist aber quatsch.

Luisa:

Während der Schwangerschaft bekommt man als Frau ja auch meist aus allen Richtungen irgendeine Meinung zu hören. Das kann auch verunsichern.

Claudia:

Ja, ab dem Moment ihrer Schwangerschaft „wissen“ alle, was das Beste für eine Frau ist. Das fand ich persönlich damals auch sehr eindrücklich. Plötzlich wussten alle, was richtig ist oder was man machen sollte. Aber alle hatten auch eine andere Meinung. Das ist auch spannend.

Luisa:

Gibt es denn auch Väter, die von der Gewalt in der Geburtshilfe betroffen sind oder sogar traumatisiert?

Claudia:

Das ist ein ganz schwieriges Thema… mit den Vätern. Aber vielleicht gehen wir nochmal einen Schritt zurück, bevor ich zu den Vätern komme: was macht Gewalt unter der Geburt?

Zuerst einmal kann man Gewalt unter der Geburt nicht so einfach mit einem Trauma gleichgesetzt werden. Allgemein führt nicht jeden Gewalterfahrung zu einer post-traumatischen Belastungsstörung in dem Sinne, wie sie definiert ist. Vielleicht führt die Erfahrung von Gewalt unter der Geburt auch „nur“ zu einer postnatalen Depression oder einer Angststörung im Wochenbett – je nachdem, was die Frau „mitbringt“ und wie die real Situation aussah.

Wenn wir aber über Traumatisierung in einem engeren Sinne sprechen, ist es so: Man weiß aus der Traumforschung, dass nicht nur das Selbsterleben eines traumatisierenden Ereignisses zu einer post-traumatischen Belastungsstörung führen kann, sondern eben das auch das Miterleben oder Bezeugen von etwas dazu führen kann. Und das trifft auch auf viele Väter zu.

Dazu kommt auch noch, dass viele Väter nicht nur Zeugen von dieser Gewalt sind, sondern auch zu Mittätern gemacht werden. Frauen berichten zum Beispiel, ihr Mann habe sie am Bein festgehalten während ihr Gewalt angetan wurde. Er habe sie also nicht nur nicht geschützt, sondern ist aktiv einbezogen worden. Das liegt natürlich meist daran, dass sich auch der Mann in einer angstbesetzten Situation befindet – der hat Angst um die Frau, der hat Angst um das Kind. Und wenn dann eine Hebamme kommt und sagt „Jetzt halt Sie mal das Bein ihrer Frau fest!“ – dann machen die das erstmal. Jedenfalls die Bereitschaft, das zu tun meist sehr groß. In solch einer Situation zu sagen „Nein, Moment mal. Warum soll ich das denn?“ – das setzt sehr viel Wissen und Stärke voraus.

Es gibt häufig die Phantasie, dass die Männer das machen sollen. Wenn sie das dann nicht tun – also passiv beobachtet haben oder aktiv in das Tatgeschehen einbezogen wurden – dann ist das natürlich auch im Nachhinein sehr schwierig für die Paar-Beziehung.

Luisa:

Und auch Hebammen oder Hebammenschülerinnen werden teilweise als Betroffene der Gesamtsituation beschrieben oder beschreiben sich selbst so.

Claudia:

Ja, weil auch die das miterleben. Die haben natürlich auch oft eine andere Vorstellung davon, wie Geburt sein sollte und bekommen dann sowas mit. Da können sie meist selbst wenig tun. Man muss sich auch klar machen, dass Krankenhäuser sehr hierarchisch sind. Und Hebammenschülerinnen stehen natürlich ganz unten in der Hierarchie.

Aber trotzdem gibt es da auch eine subjektive Verantwortung. Auch wenn das System an sich gewalttätig sein mag, gibt es noch das eigene Verhalten und da ist man trotzdem nicht aus der Verantwortung für das eigene Handeln entlassen.

Luisa:

Worin genau sehen Sie dann tatsächlich die Ursachen für Gewalt in der Geburtshilfe?

Claudia:

Also zum einen ist das natürlich die Struktur. Die Kliniken sind, wie ich bereits erwähnt habe sehr hierarchisch strukturiert und das haben dann auch Patient*innen mitzumachen. Das ist ja nicht nur in der Geburtshilfe so. In der Geburtshilfe ist das aber, denke ich, besonders prekär. Dort geht es ja um Menschen, die per se nicht krank sind. Um es anders zu sagen: Da kommen gesunde Frauen rein und die werden dann auf eine Art und Weise unmündig gemacht. Das ist das schwierige.

Und andererseits muss man verstehen, dass die Hebammen, die jetzt zu meist noch im Dienst sind damals in der Schule eben all das gelernt haben, von dem wir jetzt wissen, dass es nicht gut ist. Also, eine Hebamme hat beispielsweise zwanzig Jahre lang gelernt, dass man halt routinemäßig einen Dammschnitt machen muss und heute weiß man aber: das muss man nicht. Das erfordert auch viel Stärke, um sich das einzugestehen und die Einsicht in die Arbeit wiederum zu integrieren. Und auch nicht jede Hebamme schafft es zu sagen: „Ja, ich habe das getan, zwar mit bestem Wissen und Gewissen, aber ich habe damit trotzdem Frauen geschädigt. Deshalb mache ich das heute anders“. Ich glaube, dass das auch möglich ist. Aber es ist sehr schwer.

Es ist natürlich für Hebammen auch nicht leicht sich einzugestehen, dass man Gewalt ausgeübt hat und vor sich selbst Rechenschaft abzulegen.

Eine andere Komponente, die zu Gewalt führen kann, ist natürlich auch der reale Druck, der in den Kliniken vorherrscht. Wenn Hebammen mit so viel Druck arbeiten, dass sie nicht essen können, nicht trinken können oder nicht zur Toilette gehen können während ihrer Schicht, einfach weil da keine Zeit ist, dann wird für sie und ihre Grenzen gar nicht gut gesorgt. Und dann aber selbst mit einer achtsamen Haltung für die Grenzen anderer, in dem Fall der Gebärenden zu handeln, ist dann quasi eigentlich nicht gut möglich.

Luisa:

Also sehen Sie die Ursachen vor allem auf struktureller Ebene? Habe ich das richtig verstanden?

Claudia:

Nein, ich denke die Ursachen für diese Gewalt nur auf die Struktur zu reduzieren ist auch nicht richtig. Der Hebammenverband hat das in diesem Jahr aber auch gemacht. Zuvor haben sie in ihrem Positionspapier die Gewalt an sich – unabhängig von den Ursachen – ganz klar verurteilt. In diesem Jahr hat wurde das aber auf die Struktur reduziert. Diese Reduktion finde ich aber sehr schwierig. Das berührt den Punkt, den ich vorhin schon erwähnt habe: Die Verantwortung für das Handeln trage immer noch ich als handelnde Person selbst. Auch, wenn die Strukturen schlecht sind, muss ich anhand ethischer Leitlinien meines Berufes entsprechend handeln. Ich war letztens auch wieder bei einem Fachtag zu dem Thema. Da war eine Hebamme in der Podiumsdiskussion, die die Haltung vertreten hat, dass es Gewalt ohne Täter*innen gibt. Aber da bin ich ganz anderer Meinung: Nein, Gewalt ist nicht ohne handelnde Menschen denkbar.

Luisa:

Was muss sich den verändern, um Gewalt in der Geburtshilfe zu beenden? Was sind da die konkreten Forderungen ihres Vereins „Schwere Geburt“?

Claudia:

Also zuerst einmal: Es muss anerkannt werden, dass es diese Gewalt gibt. Es ist keine Gewalt, die sich im luftleeren Raum abspielt. Es ist keine Gewalt ohne Täter*innen. Im Gegenteil: Es gibt Täter*innen und es gibt diese Form der geschlechtsspezifischen Gewalt. Ich denke, man muss die Gewalt im Kontext von Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett unter dem Aspekt ‚Gewalt gegen Frauen‘ diskutieren. Wir sprechen nicht über ein rein gesundheitliches Thema, sondern wir sprechen über eine spezifische Form von Gewalt gegen Frauen.

Mich freut sehr, dass auch der Europarat diese Haltung vertritt.  In einer EU-Resolution vom Oktober 2019 fordert der Europarat alle Mitgliedsstaaten auf, tätig zu werden bezüglich der Bekämpfung und Prävention von Gewalt in der Geburtshilfe. Dort wird diese Gewalt auch explizit auf die Istanbul Konvention bezogen. Es wird ganz klar gesagt: Das ist eine Form von Gewalt gegen Frauen und die Mitgliedsstaaten sind verpflichtet, tätig zu werden. Der Forderungskatalog, der in dieser Resolution steht, ist wirklich gut. Den würde ich sofort so unterschreiben.

Luisa:

Da werde ich dann auch mal reinschauen, danke. Meine nächste Frage bezieht sich auch auf den Kontext geschlechtsspezifischer Gewalt. Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen der aufkommenden Debatte um Gewalt in der Geburtshilfe und der #metoo – Bewegung oder der Abtreibungsdebatte um §218 und §219a?

Claudia:

Ja, unbedingt beide Bewegungen sollten in Zusammenhang auch mit der Debatte um Gewalt im Kontext von Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett gesehen werden.

Aber vielleicht beginne ich erstmal etwas zur Abtreibungsdebatte um §291a zu sagen. Das ist  ganz interessant. Bezogen auf Schwangerschaftsabbrüche richtet sich die Rechtsprechung in Deutschland ganz klar nach dem Argument, dass das Wohl des Kindes vor dem Wohl der Mutter kommt. Liest man entsprechende Urteile und deren Begründungen findet man meistens genau dieses Argument. Und ganz ähnlich wird dann im Kontext Geburt auch argumentiert. Vor ein paar Jahr ist ein Artikel einer Fachzeitschrift für Gynäkolog*innen erschienen, den ich ganz scheußlich fand. Dort wird gesagt, dass das Recht einer Mutter auf eine schöne Geburt zurückzutreten hätte, hinter dem gesamtgesellschaftlichen Interesse an der Geburt eines Kindes. Und genau das passiert leider auch in der Geburtshilfe. Da werden Frauen dann auch während der Geburt unter Druck gesetzt oder sogar erpresst, indem ihnen beispielsweise explizit gesagt wird: „Das können Sie nicht machen, sonst gefährden Sie das Wohl des Kindes“.

Dieses Argument finde ich besonders schlimm auf zwei verschiedenen Ebenen.

Zum einen wird der Mutter unter der Geburt die Fähigkeit abgesprochen, selbst Entscheidungen zum Wohl ihres Kindes zu treffen. Ist das Kind geboren, können Mutter und Vater gesundheitliche Entscheidungen für ihr Kind treffen. Aber während der Geburt, darf eine Frau das prinzipiell nicht. Das ist eine ganz verquere Logik irgendwie.

Und zum anderen impliziert eine Argumentation, die das Wohl des Kindes über dem der Mutter sieht, dass wir über das Kind reden können, ohne über die Mutter zu reden. Das ist aber Quatsch. Zum Zeitpunkt der Geburt und auch im Wochenbett existiert das Kind auch psychisch nicht unabhängig von der Mutter. Schaden sie der Mutter, schaden sie auch dem Kind – ganz massiv.

Luisa:

Ja, ich verstehe. Gewalt unter der Geburt kann eben langfristige Auswirkungen auf die Mutter und damit auch auf das Wohl des Kindes haben. Dieser Aspekt müsste deutlicher werden, wenn wir über das Wohl des Kindes reden.

Claudia:

Ja. Sie hatten noch eine zweite Frage.

Luisa:

Genau, zur #metoo – Bewegung…

Claudia:

Ja, richtig. Und auch bezogen auf die #metoo – Bewegung gibt es da tatsächlich viele Parallelen. Es gab sogar den Hashtag #metoointhebirthroom. Es gibt einen sehr schönen Blogartikel von Jesusa Ricoy – der Frau, die die Roses Revolution initiiert hat – in welchen sie nochmal rausarbeitet, warum sich diese Erfahrungen von Gewalt unter der Geburt auch als #metoo verstehen lassen.

Ja, und damit kommen wir dann eigentlich auch schon zur Roses Revolution.

Luisa:

Das wäre auch meine nächste Frage gewesen. Dann erzählen Sie doch noch etwas zur Roses Revolution.

Claudia:

Die Roses Revolution hat ihren Anfang im Jahr 2011. Das war damals eine Reaktion auf Karikaturen, die in einem Fachblatt von spanischen Gynäkolog*innen veröffentlicht wurden. Das waren also Karikaturen, die sich über Patientinnen lustig machten. Und dann gab es aber ganz viele Frauen, die sagten, dass das nicht nur harmlose Karikaturen seien – sondern es den Frauen tatsächlich so ergangen war, wie die Karikaturen das zeigten. Dann ist auch relativ schnell der Slogan der Roses Revolution entstanden: „Name it – Each Woman is a Rose“. Und darin steckt quasi auch die Aussage: „Ihr habt kein Recht so über uns zu reden. Ihr habt kein Recht unsere Körper kaputt zu machen. Jeder Körper ist ein schöner Körper. Ihr nehmt uns nicht unsere Würde“.

Ausgehend von den Berichten, dass diese Karikaturen reale Situationen widerspiegelten, hat es sich dann schnell dahingehend ausgeweitet, dass Frauen auch von realer Gewalt unter der Geburt berichteten. Mit #rosesrevolution wurden diese Berichte dann über die sozialen Medien geteilt.  Die Roses Revolution ist dann auch umgezogen quasi auf den 25.11., also auf den Tag zur Bekämpfung der Gewalt an Frauen. An diesem Tag legen Frauen eine Rosen nieder – vor dem Kreißsaal, Geburtshaus oder sogar in der eigenen Wohnung – dort, wo ihnen durch Geburtshelfer*innen, Hebammen oder Ärzt*innen Gewalt angetan wurde. Zum Teil schreiben die Frauen auch Briefe dazu oder teilen ihre Berichte in den sozialen Medien.

Seit 2013 gibt es die Roses Revolution auch in Deutschland. Über die Facebookseite der Roses Revolution kann man auch sehr viel erfahren. Und es werden jedes Jahr mehr und mehr Frauen, die sich daran beteiligen. Diese Facebookseite zur Roses Revolution wurde dann aber immer nur einmal im Jahr, speziell zu diesem Tag hochgeschaltet. Die Idee der Vereinsgründung war daher auch, eine stetige Anlaufstelle zu schaffen.

Luisa:

Und auf dieser Facebookseite werden dann auch Geburtsberichte von Frauen gesammelt und zusammengetragen?

Claudia:

Ja. Aber das hängt ganz davon ab, was die Frauen möchten.  Es gibt Frauen, die legen einfach eine Rose nieder, andere schreiben noch etwas dazu, manche einen langen Geburtsbericht, andere einen persönlichen Brief an Personal, andere wiederum wollen es komplett anonym halt – das kann also ganz verschieden ablaufen.

Aber hauptsächlich geht es auch darum, Verantwortung zurückzugeben. Das ist das emanzipatorische dieser Rosen Revolution. Das Niederlegen der Rose steht symbolisch dafür, dass Verantwortung zurückgegeben werden kann. Die Frauen erkennen an, dass ihnen Gewalt wiederfahren ist und ihnen geschadet wurde. Und sie erkennen so auch, dass sie keine Schuld für das Geschehen tragen. Aber auch das ist ein langer Prozess, nicht jede Frau kann diesen Schritt sofort gehen.

Es braucht einfach Zeit bis die erlebte Gewalt auch in das eigene Leben integriert werden kann. Das ist also ein Verarbeitungsprozess und der ist eben unterschiedlich lang.

Luisa:

Und wie reagieren Täter*innen darauf? Also wie reagieren Kliniken, Ärzte, Ärztinnen oder Hebammen? Kommen da viele Reaktionen nach dem Roses Revolution Day?

Claudia:

Auch das ist total spannend. Ich habe einmal im Namen von etwa 50 Frauen, die sich zu dem Zeitpunkt eben noch nicht trauten an die Kliniken heranzutreten, einen Brief geschrieben. Ich habe dann also den exakt gleichen Brief an mehrere Kliniken geschickt und die Reaktionen gingen sehr weit auseinander. Einigen fragten zum Beispiel nach mehr Material, dann gab es manchmal Danksagungen vom Qualitätsmanagement der Kliniken oder einen Chefarzt, der fragte, ob es man nicht eine Fortbildung dazu machen könne. Aber dann gab es auch einen Antwortbrief, in dem ich massiv beschimpft wurde. Inklusive einem riesigen Pamphlet, darüber wie dankbar die Frauen immer seien und dem wurde dann als Beweis sogar noch ein Dankesbrief einer Mutter rangehangen.

Luisa:

Das hat also viel auch wirklich mit den Personen zu tun.

Claudia:

Genau, und wie viel Verständnis diese eben dafür aufbringen können. Also ich glaube, es ist wirklich grundsätzlich sehr verschieden, wie reagiert wird. Es gibt auch Hebammen, die sich dann darüber beschweren, dass kein Brief beigelegt wurde mit der Forderung, dass sie ihnen gesagt werden müsse, was sie anders machen sollen. Da denke ich aber, dass diese Aktion der Frauen einfach eine Form der Selbstermächtigung darstellen sollte und eben keine Qualitätsmanagement-Schulung.

Wir haben auch von Fällen gehört, wo Frauen ihre Briefe nicht anonym verfasst haben und dann nochmal zum Gespräch in die Klinik eingeladen wurden. Dort wurde das Verhalten der Klinik und die Gewalt dann eigentlich nochmal gerechtfertigt. Daher bin ich auch über jeden Brief froh, der nicht ganz real eine Situation schildert.

Es gibt aber auch Hebammen, die diese Aktion an sich – also eine niedergelegte Rose –  wirklich als Anlass nehmen, um zu fragen: „Was mache ich im Klinikalltag? Was kann ich anders machen?“. Und diese Reaktionen machen mir dann Hoffnung, dass sich tatsächlich etwas ändert. Und darum geht es letztendlich.

Luisa:

Das stimmt.

Was mich auch noch interessiert ist die Frage, inwiefern wir mit Frauen und mit der gesamten Öffentlichkeit über dieses Thema sprechen können, ohne einfach nur Angst zu schüren.

Claudia:

Diese Frage zu beantworten ist schwierig und komplex. Zu erst einmal, sollte klar sein, dass Angst auch zur Schwangerschaft dazugehört. Es ist normal, dass schwangere Frauen auch Angst verspüren, denn sie wissen nicht genau, worauf sie sich einlassen. Das ist einfach normal – Ungewissheit macht Angst. Das Problem mit der Angst ist aber, dass auch oft schon in der Schwangerschaft der Angst meist gar kein Raum gegeben wird. Angst kann aber auch eine Möglichkeit sein. Angst ist ein natürliches Warnsystem. Deswegen sollte man da auch mal hingucken und sehen, was man mit der Angst anfangen kann. Es ist eigentlich ganz gut, dass sie da ist.

Das ist das eine. Zum anderen ist Angst allein, natürlich ein schlechter Ratgeber. Also, wenn man etwas aus Angst entscheiden oder eben die Angst vermeidend entscheiden, dann kann man nicht gut entscheiden. Daher ist es mein Rat, einfach erstmal hinzugucken und gut zu überlegen.

Und drittens muss man sagen, dass Angst unter der Geburt selbst die Geburt hemmen kann. Das ist ein Gegenspieler – macht in Hinblick auf Evolution auch total Sinn: befindet sich eine Frau in einer gefährlichen Situation, sollte die Geburt natürlich erstmal unterbrochen werden, sodass sie sich und das Kind schützen kann. Die Geburt selbst sollte einfach in einer möglichst angstfreien Atmosphäre passieren. Bezogen auf die Gewalt in der Geburtshilfe und damit verbundener Angst, würde ich ganz pragmatisch sagen, dass diese Gewalt dann ja nicht verschwindet nur weil man so tut als wäre sie nicht da.

Ich bin immer dafür, darüber zu sprechen wie die Situation wirklich ist. Nur so können sich Frauen auch davor schützen. Also wenn ich zum Beispiel weiß, dass in einer bestimmten Klinik eine bestimmte Interventionsrate sehr hoch ist und gerade das mir Angst macht, macht es doch total Sinn vorher darüber nachzudenken. Dann kann ich vielleicht nicht in diese Klinik gehen, sondern in eine andere.

Es macht einfach Sinn, sich darüber Gedanken zu machen, wovor man Angst hat und daraus erkennen, was man braucht.

Luisa:

Ja, das macht Sinn. Was genau würden Sie denn einer Frau präventiv empfehlen, um sich vor Gewalt unter der Geburt zu schützen? Was wollen Sie uns und allen anderen noch mitgeben? Was liegt Ihnen da noch am Herzen?

Claudia:

Ich denke, das Wichtigste ist, dass wir unsere Rechte kennen. Die Grenzen von dem, was ich akzeptiere und was nicht, verschieben sich dann. Je mehr Informationen man hat, desto besser lassen sich Entscheidungen treffen. Und, wie ich bereits sagte, macht es sehr viel Sinn, sich im Voraus zu überlegen: Was brauche ich? Was möchte ich für meine Geburt? Was möchte ich nicht?

„Kenne dein Recht“, das mag auch erstmal ganz banal klingen. Aber ich denke, es ist essentiell. Das kann manchmal wie ein Zauberwort sein. Bei einer Freundin von mir war es genau so: Sie verlangt explizit ein PDA. Man hält sie hin. Sie bekommt das mit. Und sie spricht es an. In dem Moment, als sie sagte, dass sie ihre Rechte kenne, änderte sich die Atmosphäre schlagartig. Der Anästhesist, auf den sie zuvor eine Stunde gewartet hatte, war dann ganz schnell da. Und auch bei allem, was danach bei dieser Geburt passiert ist, wurde zuvor eine Zustimmung bei meiner Freundin ein geholt.

Luisa:

Ich denke, dieses Beispiel beleuchtet sehr gut, dass es wichtig ist sich als Gebärende über die eigenen Rechte im Klaren zu sein.

Claudia:

Ja. Mich berührt es aber auch sehr darüber zu erzählen, weil ich auch denke: Es kann doch nicht sein, dass eine Frau nur dann gute und grenz-wahrende Geburtshilfe bekommt, wenn sie mit Recht argumentiert! Es muss doch möglich sein, dass eine Frau mit keinerlei Vorerfahrung oder geringem Bildungshintergrund auch eine gute, qualitativ hochwertige Geburtshilfe bekommt.

Aber deswegen müssen wir jetzt über Gewalt in der Geburtshilfe reden. Frauen müssen wissen, dass das nicht in Ordnung ist und nur dann können sie auch was anderes einfordern.

Luisa:

Das sehe ich auch so. Über dieses Thema muss gesprochen werden. Und ich bedanke mich ganz herzlich bei Ihnen, dass Sie das heute mit mir getan haben.

Claudia:

Sehr gern, bis bald!

 

Dieses Interview war Teil unserer Recherche zum Beitrag „Über Gewalt in der Geburtshilfe und eine Revolution mit Rosen“

#metoointhebirthroom

Stand: 20.01.2020 | Von: Anne, Max, Sophie und Luisa.

*Triggerwarnung: In diesem Artikel sprechen wir über Gewalt im Kontext von Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett.


Unter #rosesrevolution konnte man am 25. November den Roses Revolution Day auf Instagram verfolgen. Jedes Jahr am internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen macht die Roses Revolution auf Gewalt in der Geburtshilfe aufmerksam. Die Roses Revolution ermutigt Frauen dazu, rosafarbene Rosen vor den Türen der Kliniken oder Kreisssäle niederzulegen, in denen sie unter der Geburt Gewalt erfahren haben und versucht somit ein Bewusstsein für das Thema zu schaffen. 

berschrift-hinzufügen
Quelle der Zitate: http://www.gerechte-geburt.de/home/roses-revolution/

Und diese Bewegung wächst. Im Jahr 2018 seien mehr als 25% aller deutschen Kliniken mit Rosen bedacht worden. Auf dem Instagram-Account @rosesrevolution2019 wurden auch in diesem Jahr zahlreiche Beiträge zusammengestellt, die unter dem entsprechenden Hashtag erschienen sind:

‚Gewalt unter der Geburt‘ klingt aufs erste abstrus: sollte eine Geburt nicht ein wunderschönes Erlebnis für alle Beteiligten sein? Eigentlich schon. Welche Gewalterfahrungen machen Frauen also unter der Geburt? Was sind die Ursachen für diese Gewalt? Hat das alles eigentlich was mit dem Patriarchat zutun? Und was können Frauen tun, um sich davor zu schützen? 

„Im gesamten Kontext von Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett kommt es zu psychischer, physischer und struktureller Gewalt“, heißt es auf der Website vom Verein Gerechte Geburt. Im folgenden wird meist vereinfacht von „Gewalt unter der Geburt“ gesprochen. Es sollte hiermit jedoch deutlich sein, dass sich Gewalt in der Geburtshilfe nicht auf den Geburtsprozess per se beschränkt. 

Nebenstehend sind einige Handlungen aufgeführt, die Frauen als Gewalt erlebt haben. Welche Handlungen als Gewalt erfahren werden, ist dabei eine subjektive Erfahrung. Die meisten dieser Handlungen können jedoch auch von außen betrachtet als gewalttätige Übergriffe erkannt werden. Aber es ist eben nicht nur die Missachtung von Rechten oder körperlichen Grenzen, die als Gewalt erlebt werden. Auch verbale Verletzungen und unsensible Sprüche wie „Weinen hilft dir jetzt auch nicht“ sind grenzüberschreitend und können von Gebärenden als Gewalt erlebt werden. „Weinen hilft dir jetzt auch nicht“ – das ist auch der Titel des WDR 5 Podcast Feature von Marie von Kuck. Hier wird über die traumatischen Erfahrungen, die Greta Jülicher bei der Geburt ihres Sohnes gemacht hat, berichtet. Beim Hören mussten wir mehrmals pausieren. Das alles ist nicht gerade einfach mit anzuhören. Daher an dieser Stelle nochmals eine explizite Triggerwahrnehmung hinsichtlich des Podcasts. 

Bei der Gewalt, die Frauen unter der Geburt erfahren, handelt es sich also sowohl um körperliche als auch seelische Gewalt. Das beides sind direkte Gewaltformen. Gewalt kann aber auch weniger sichtbar und indirekt sein: strukturell-bedingt nämlich. Und auch das trifft auf die Gewalt in der Geburtshilfe zu.

Quantitative Studien darüber, wie viele Frauen tatsächlich Gewalt unter der Geburt erleben, gibt es noch nicht. Das ist auch schwierig, denn Gewalt ist, wie bereits erwähnt, auch immer an ein subjektives Empfinden geknüpft. Nicht jede Frau erkennt sofort, dass das, was ihr da passiert ist, Gewalt war. Und darüber zu sprechen ist auch alles andere als leicht.  Vergleiche man jedoch aktuelle Interventionsraten mit den Empfehlungen der WHO dazu, könne man zu dem Schluss kommen, dass „40 bis 50 Prozent der Interventionen unnötig oder von den Frauen nicht genehmigt sind und dadurch den Tatbestand der Körperverletzung erfüllen“so Christina Mundlos in einem Interview.

interventionsraten

Die WHO – Empfehlung zu normalen Geburt sagt aus, es gäbe „keinerlei Rechtfertigung für eine Kaiserschnittrate über 10 bis 15 %“.  Eine Kaiserschnittrate, die darüber liegt, bringe keinerlei weitere Verbesserung für das Wohl von Mutter oder Kind mit sich. In der klinischen Geburtshilfe wird jedoch bei 31,8 Prozent aller Gebärenden ein Kaiserschnitt durchgeführt. Außerdem werden inzwischen 22 Prozent aller Geburten eingeleitet, der natürliche Geburtsbeginn immer seltener abgewartet. Bei weiteren 7,9 Prozent nimmt man eine medikamentöse Muttermundreifung vor. Auch hier wird also der Geburtsverlauf künstlich beschleunigt, beispielsweise mit dem Medikament Prostaglandin, welches den Muttermund „weicher“ machen soll. Eine eingeleitete Geburt trägt dann das Risiko, weitere Interventionen nach sich zu ziehen. Grundsätzlich erhöht eine medizinische Intervention bei der Geburt die Wahrscheinlichkeit weiterer Interventionen – man spricht auch von „Interventionskaskaden“. Auch Anästhesien, wie beispielsweise die Spinal – oder Periduralanästhesie, werden bei immer mehr Geburten eingesetzt (63,1 Prozent).

Und dann gibt es noch diese Eingriffe zu denen liegen nicht einmal Zahlen vor, da diese oft nicht im Geburtsprotokoll erwähnt werden und  von den Kliniken somit einfach nicht erfasst werden. Zum  Kristeller-Handgriff beispielsweise werden in Deutschland keinerlei Daten erfasst. Und das, obwohl dieser Handgriff laut Hebammen regelmäßig praktiziert wird und dabei ein extrem hohes gesundheitliches Risiko für die Gebärende und das Kind mit sich bringt. Diese Methode ist in mehreren Ländern verboten, in Deutschland nicht. 

Und dann bleiben lediglich 6 Prozent aller klinischen Geburten, die tatsächlich ohne Eingriffe verlaufen. Natürlich ist nicht jeder geburtshilfliche Eingriff mit Gewalt gleichzusetzen. Frauen entscheiden sich teilweise auch ganz bewusst für einen bestimmten Eingriff, z.B. das Legen einer Periduralanästhesie, oder es handelt sich tatsächlich, um eine medizinisch notwendige Intervention. Auf das WIE kommt es dann aber an und auch auf das WIESO, denn häufig verfolgen Kliniken ganz eigene Interessen, wenn sie sich für eine Intervention entscheiden…

vergleich-klinisch-außer-klinisch

In der klinischen Geburtshilfe wird bei 23,8 Prozent aller Geburten ein Dammschnitt vorgenommen. In der außer-klinischen Geburtshilfe ist diese Rate mit 4,6 Prozent deutlich geringer. Und auch bei der Dauer der Geburten kann man einen deutlichen Unterschied zwischen klinischen und außer-klinischen Geburten erkennen. Während nur 8,7 Prozent der Klinikgeburten 12 Stunden oder länger dauerten, waren es 29,5 Prozent der außer-klinischen Geburten, die diese Dauer hatten. Komisch, oder?

Die Differenz bei der Dauer der Geburten lässt die Vermutung zu, dass man in den Kliniken versucht, den Geburtsverlauf zu beschleunigen. Die Tatsache, dass in der klinischen Geburtshilfe wesentlicher häufiger Interventionen von außen stattfinden, wie beispielsweise Dammschnitte, scheint diese Vermutung zu unterstützen. Nun ja, das mag wohl daran liegen, dass „eine Geburt mit vielen medizinischen Eingriffen und Maßnahmen überdurchschnittlich viel Geld in die Kassen der Kliniken spühlt „, schreibt Christina Mundlos. Natürliche, interventionsarme Geburten hingegen würden sich durch das geltende Abrechnungssystem kaum lohnen.  Interventionen werden also finanziell „belohnt“.

Eingriffe der Geburtsmedizin in den natürlichen Verlauf einer Geburt häufig ausschließlich positiv bewertet werden. „Dass sich die Geburtsmedizin des weiblichen Körpers bemächtigt und den Gebärenden somit auch schaden kann, wird oft vernachlässigt“, so Christina Mundlos. Fakt ist: Eine Zunahme von Interventionen, die den finanziellen Interessen der Kliniken dienen, steht in direktem Zusammenhang mit einem gewaltsamen Verlauf der Geburt. 

Warum haben aber nur wenige Menschen bisher von Gewalt im Kontext von Schwangerschaft, Geburt oder Wochenbett gehört? Warum wird in der Öffentlichkeit nicht darüber gesprochen? Warum können Betroffene nicht über ihre Erfahrungen sprechen?

Zitat-Christina-Mundlos

Tja, „warum wird generell so wenig über Gewalt gegen Frauen gesprochen?“, ist die Gegenfrage der Diplom-Psychologin und Aktivistin Claudia Watzel als wir sie im Interview danach fragen. Betroffene Frauen sprechen im Allgemeinen selten über ihre Gewalterfahrungen. Im Bezug auf eine Geburt sei das aber nochmal besonders schwer, da die Geburt und das Mutter-werden danach eine äußert sensible Phase im Leben einer Frau bilden „Häufig fühlen sich Frauen sogar schuldig, dass sie ihr Kind nicht besser haben schützen können“, schildert Claudia Watzel.

Gewalt in der Geburtshilfe ist immer noch ein Tabuthema. Das Vorgehen von Ärzt*innen und Hebammen überhaupt erstmal infrage zu stellen, erscheint aufgrund ihrer Macht- und Autoritätsposition manchmal schier unmöglich. In einer Doku vom WDR zu diesem Thema beschreibt eine Betroffene genau diesen Konflikt. Wir leben in einer expertenhörigen Gesellschaft – ‚die Leute im weißen Kittel werden es schon wissen‘ denkt man.

Aber auch die möglichen Reaktionen von Familie, Freund*innen oder Bekannten können eine Frau davon abhalten, von ihrem Geburtserlebnis zu berichten. Eine Mutter, die von der Geburt ihres Kindes nicht als „schmerzhaftes, aber trotzdem schönes Ereignis“ spricht, scheint meist für reichlich Irritation und Unmut zu sorgen. Frauen, die von gewalttätigen oder traumatischen Erlebnissen unter der Geburt berichten, sehen sich oft mit unnachsichtigen Reaktionen konfrontiert: „[j]eder suggerierte mir, die Hauptsache sei doch, dass mein Kind gesund ist. Ich sei undankbar und unnormal” schreibt die 34-jährige Sandra in ihrem Geburtsbericht im Buch von Christina Mundlos. 

Und auch Claudia Watzel erzählt von solchen Reaktionen: 

Das Wohl der (werdenden) Mutter tritt in den Hintergrund. Eine Frau wird lediglich als „Hülle für das neue Leben“ wahrgenommen. Christina Mundlos sieht darin ein frauenfeindliches Bild, welches bis heute fest in unserem Denken verwurzelt zu sein scheint.  „Das zu einer guten Geburt noch mehr dazu gehört, als ein physisch gesundes Kind ist auch noch nicht lang akzeptiert. Erst die Veröffentlichung der WHO zur Positive Childbirth Experience von 2018 geht klar davon aus, dass eine gute Geburt auch das Wohl der Mutter einschließt“, erzählt uns Claudia Watzel im Interview. 

Für Betroffene ist es insgesamt oft ein schwieriger und langer Prozess, bis sie ihre Erfahrungen als Gewalterfahrungen erkennen, darüber sprechen können und auch tatsächlich gehört werden.

Das dieses Thema gerade jetzt auch langsam einen Raum im öffentlichen Diskurs zu finden scheint, könnte wohl mit einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung zusammenhängen. Die kleinen und großen Grenzüberschreitungen, die Frauen täglich erleben, werden laut diskutiert und sichtbarer. Die #metoo – Bewegung steht hierfür exemplarisch. Und auch im Kontext von Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett verschieben sich nun die Grenzen dessen, was Frauen glauben widerspruchslos ertragen zu müssen. Nicht ohne Grund gibt es auch den Hashtag #metoointhebirthroom

Zitat-Claudia-Watzel

Die Gewalt, die Gebärende während der Geburt erfahren, kann somit auch in einem Zusammenhang mit der Debatte um den §219a gesehen werden. „Das ist sehr interessant“, sagt Claudia Watzel als wir sie danach fragen. Die Argumentationsgrundlage scheint oft ähnlich. Bezogen auf Schwangerschaftsabbrüche richte sich die Rechtsprechung in Deutschland ganz klar nach dem Argument, dass das Wohl des Kindes vor dem Wohl der Mutter kommt. Liest man entsprechende Urteile und deren Begründungen könne man meistens genau dieses Argument finden. Und ganz ähnlich wird, wie bereits erwähnt, oft auch im Kontext Geburt argumentiert. Frauen werden auf eine reproduktive Funktion reduziert, objektiviert und nur als „Hülle“ gesehen. „Berücksichtigen wir […] die Hindernisse, die es immer noch auf dem Weg zur Gleichberechtigung der Geschlechter gibt“, schreibt Christina Mundlos herausfordend, „kann man nur davon ausgehen, dass männliche Gebärende […] seltener Gewalt unter der Geburt erleben würden“. Die Befindlichkeiten und das Wohlergehen von Frauen scheinen also auch aufgrund einer immer noch patriarchalen Gesundheitspolitik, die die Bedürfnisse von Frauen nicht ernst nimmt, völlig aus dem Fokus geraten zu sein.

Christina Mundlos im Interview.

"Kenne deine Rechte", da sind sich Claudia Watzel und Christina Mundlos einig. Beide Aktivistinnen erachten dies als essentiell für Frauen, um sich vor der Gewalt in der Geburtshilfe zu schützen. Sich vor der Geburt mit den einzelnen Eingriffen und Möglichkeiten, aber vor allem eben auch mit den eigenen Rechten stark auseinander zu setzen ist empfehlenswert. 

WHO

Nein heißt Nein - auch im Kreißsaal. Medizinische Eingriffe, die ohne Aufklärung über dessen Risiken oder ohne Einwilligung durch die Gebärenden vorgenommen werden, können als Körperverletzung geahndet werden. Aber auch das Verweigern von  schmerzstillenden Medikamenten kann eine Verletzung der Rechte der Gebärenden darstellen und als Gewalt erfahren werden, wenn beispielsweise extreme Wehenschmerzen über einen sehr langen Zeitraum ertragen werden müssen. Doch jede Frau hat das Recht auf eine selbstbestimmte und würdevolle Geburt.

Gewalt unter der Geburt ist rechtlich gesehen natürlich ebenso Gewalt, wie jede andere und steht unter Strafe. Die körperliche Unversehrtheit ist Grundrecht jedes Menschen. Die Würde der Menschen zu schützen, ist Aufgabe des Staates. 

"Missbrauch, Vernachlässigung oder Respektlosigkeit während der Geburt kann eine Verletzung der grundlegenden Menschenrechte einer Frau darstellen, wie sie in international anerkannten Menschenrechtsstandards und -grundsätzen beschrieben sind“, heißt es in der WHO - Erklärung weiter. Zu jenen international anerkannten Menschenrechtsstandards, von denen die WHO hier spricht, gehören bspw. die der UN. In der „Declaration on the Elimination of Violence against Women“ von 1993 fordert diese: „Die Staaten sollten mit allen geeigneten Mitteln und unverzüglich eine Politik zur Beseitigung der Gewalt gegen Frauen verfolgen […]“.

Gewalt, die wir in der geburtshilflichen Versorgung vorfinden, sollte unter dem Aspekt 'Gewalt gegen Frauen' diskutiert werden. Es ist die Aufgabe des Staates auch hier Wege einzuleiten, die das Ziel verfolgen, diese Gewalt schnellstmöglich zu eliminieren. 

Claudia Watzel warnt allerdings davor, Gewalt unter der Geburt auf gesundheitspolitische und strukturelle Ursachen zu reduzieren:

Ärzt*innen, Hebammen und Geburtshelfer*innen stehen auch auf persönlicher Ebene in der Pflicht, Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen und entsprechend ethischer Leitlinien ihres Berufes zu agieren. 

Die Gewalt, über die wir hier versucht haben zu sprechen - Gewalt im Kontext von Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett - ist ein komplexes Phänomen. Es sollte klar sein, dass ein Beitrag dieses Umfangs nicht den Anspruch erhebt, alles gesagt zu haben. Aber es soll ein Anfang sein. Damit sich etwas verändert, müssen wir dieses Tabu aufbrechen. Wir müssen über Gewalt im Kontext von Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett reden. Wir sollten Frauen ermutigen, über ihre Erfahrungen zu sprechen und vor allem sollten wir ihnen zuhören!

Um auch politisch für Veränderungen zu bezwecken, brauchen Vereine und Initiativen wie Gerechte Geburt oder Mother Hood e.V. deine Unterstützung! Mit der Zeichnung der Bundestagspetition (Nr. 76417) könnt ihr euch aktiv für eine Geburtshilfereform und gegen Gewalt in der Geburtshilfe einsetzen. Unterschriften sind jederzeit möglich (auch wenn die Petition schon von 2018 ist), denn eine Antwort auf die Petition gab es bisher noch immer nicht.

LEST GERN HIER WEITER, INFORMIERT EUCH ODER WERDET AKTIV! 

zum Weiterlesen oder Aktivwerden..

Unterscheib' 'ne Petition: Petition an den Deutschen Bundestag: Beschluss einer umfassenden Geburtshilfereform.

Gewalt unter der Geburt (2015) - Christina Mundlos

Give Birth Like a Feminist: Your Body. Your Baby. Your Choices. (2019) - Milli Hill 

"Fass mich nicht an!" von Meredith Haaf (Süddeustche). 

"Gewalt unter der Geburt - ein Tabu" von Veronica Bonilla Gurzeler (mit Christina Mundlos im Interview). 

WHO-Empfehlung zur normalen Geburt. 

WHO (2015). "The prevention and elimination of disrespect and abuse during facility-based childbirth"

Alle Grafiken in diesem Beitrag wurden von Anne und Luisa selbst entworfen. 

Zuhause fühlen

von Joanna Piekarska, Juliane Herbst, Marie Eisenmann und Lisa Schellig

- Ursprünglich - 
Ur·sprung
/Úrsprung/
Substantiv, maskulin; [der] Beginn; Material, Ort, Zeitraum,
von dem etwas ausgegangen ist, seinen Anfang nehmen

Unser Ursprung. Der Ort, an dem wir unseren Anfang genommen haben, an dem wir unsere Kindheit, möglicherweise unsere Jugend verbracht haben, und an dem wir von äußeren Einflüssen geprägt worden sind. Der Ort, an dem wir zu der Person herangewachsen sind, die bereit war, die ersten eigenen Schritte hinaus in die Welt zu gehen.
Doch ist dieser Ort auch Heimat oder Zuhause?

Was ist das alles überhaupt? Ist Heimat der Ort, an dem wir jeden Morgen aufwachen, oder der, an dem wir den Großteil unserer Kindheitserinnerung gemacht haben? Ist Zuhause das Land, dessen Sprache wir sprechen, oder jenes, dessen Pass wir besitzen? Sind die Personen, die uns in den ersten Jahren des Lebens begleitet haben, Familie, oder sind es jene, die uns in den letzten begleiten? Wer sind wir überhaupt, ohne unsere Ursprünge zu berücksichtigen?

Die eigene Identität ist ein vielschichtiges, komplexes Gebilde und die Frage nach ihr treibt viele Menschen von ihrer Heimat in die Fremde, in die weite Welt. Die Suche nach sich selbst begleitet manche Menschen ein Leben lang, doch vielleicht liegt die Antwort gar nicht so weit entfernt, wie wir glauben, wenn wir uns anschauen, woher wir kommen.


In Wirklichkeit aber ist kein Ich, auch nicht das naivste, eine Einheit, sondern eine höchst vielfältige Welt, ein kleiner Sternenhimmel, ein Chaos von Formen, von Stufen und Zuständen, von Erbschaften und Möglichkeiten.

Hermann Hesse – Der Steppenwolf

Um Antworten zu finden, haben wir uns mit vier Personen unterhalten, deren Leben unterschiedlicher nicht sein könnten. Wir sprechen über Zuhause und Heimat, über’s Aufbrechen, Ankommen, Hinterfragen und Dazugehören; und darüber, wie viel von alle dem ausmacht, wer wir sind.

aufbrechen

Fotografin: Juliane Herbst

Was bedeutet Heimat für junge Menschen, die vor kurzem aufgebrochen sind, und ihre Heimat verlassen haben? Juliane hat dazu mit unerschiedlichsten Freund*innen gesprochen. Und obwohl sie alle verschieden sind, sagen doch alle dasselbe: Heimat ist der Ort, meistens auch das Haus, in dem sie aufgewachsen sind. Es wird von Kindheitserinnerungen gesprochen und ein Ort der Verwurzelung beschrieben, an dem die Eltern und Geschwister sind. Dort, wo sie sich geborgen fühlen. Es werden Standortfaktoren genannt, die den Heimatort ausmachen, wie zum Beispiel das Meer oder Berglandschaften.

Für jeden ist es aber etwas ganz Eigenes, das das Gefühl nach Heimat auslöst: Die kleine Stadt an der Ostsee, der Blick aus dem Fenster auf die Berge, der Hinterhof in Hamburg, die Wälder, in denen sie als Kind früher immer auf Bäume geklettert sind. Es kann aber auch der Geruch von frischen Brötchen an einem Sonntagmorgen sein, die lange Straße, die sich durch die ganze Stadt schlängelt, das Stimmengewirr der Familie, wenn die Haustür geöffnet wird und alle zusammen Waffeln essen, das spontane Treffen von alten Bekannten in der Stadt und auch der Geschmack von Kaffee, der nur bei den eigenen Eltern genau so schmeckt.
Wie schon Herbert Grönemeier gesungen hat: „Heimat ist kein Ort, Heimat ist ein Gefühl!“

Unsere Heimat ist dort, wo wir uns wohl, akzeptiert und geborgen fühlen.

Fachbteilung des Bundesministeriums für Inneres, für Bau und Heimat

Wenn die von Juliane befragten Personen allerdings von Zuhause erzählt haben, wurde zusätzlich vom aktuellen Wohnort, dem Haus oder der Wohnung und von Freunden und Familie gesprochen. Bei Vielen gibt es einen Punkt im Leben, an dem sie ihre Heimatstadt verlassen. Aufbrechen. Sei es für eine Ausbildung, ein Studium, einen Job, die eigene Familie oder die bloße Sehnsucht danach, mehr zu sehen und mehr Orte Zuhause nennen zu können.
Allein zwei Drittel der angehenden Student*innen verlassen direkt nach der Schule ihre Heimatstadt. Das sind in Deutschland knapp zwei Millionen junge Menschen.

Es gibt einen Unterschied zwischen Heimat und Zuhause, auch wenn er nicht sehr groß ist. Auf den ersten Blick ist er kaum zu erkennen und für jeden individuell und ganz persönlich:
Heimat ist all das, was die Kindheit und Jugend prägt. Heimat kann Zuhause sein. Zuhause kann aber auch der Ort sein, an dem man drei bis vier Jahre gelebt hat oder eine Wohnung, in der man sich unglaublich wohl gefühlt hat, sie aber für einen Umzug verlassen hat. Man kann sich also an mehreren Orten im Laufe seines Lebens zuhause fühlen. Manchmal auch an mehreren gleichzeitig.

Für einige sind Heimat und Zuhause dasselbe, andere bauen sich auch eine zweite Heimat auf, wenn sie eine lange Zeit am selben Ort leben und sehen, wie dieses Zuhause möglicherweise auch die Heimat der eigenen Kinder wird.
Fast zwei Drittel der von Juliane befragten Personen, die sich in ihrer Heimat wohlgefühlt haben und eine schöne Kindheit in Erinnerung haben, wollen gerne dorthin zurückkehren. Sei es, um eine Familie zu gründen, um den eigenen Kindern eine ähnlich schöne Kindheit und Jugend zu ermöglichen, um sich zur Ruhe zu setzen oder um einfach wieder in der Heimat zu sein. Weil doch kein anderer Ort so ein Gefühl nach Geborgenheit geben kann wie die ursprüngliche Heimat.

Wie verändert sich unsere Verständnis von Heimat, wenn wir uns ein neues Zuhause aufgebaut haben? Um zu beantworten, wie junge Menschen sich mit ihrer Heimat und ihrer Familie verbunden fühlen, spricht Juliane mit Charlotte.


Doch was bedeutet Heimat und Zuhause, wenn man nicht nur seine Heimatstadt verlässt, sondern auch das Land, um woanders ganz neu anzufangen? 2018 lebten in Deutschland 20 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund.

Eine davon ist Joannas Mutter, die 831km von dem Ort, den sie 25 Jahre lang ihr Zuhause genannt hat, eine neue Heimat gefunden hat. Sie hat für den Artikel ihrer Tochter zum ersten Mal ausführlich über ihren Weg gesprochen und dabei weniger vom Aufbrechen erzählt, dafür viel vom Ankommen, Dazugehören und Zuhause fühlen.

ankommen

Fotografin: Joanna Piekarska

Meine Mutter ist vor 32 Jahren von Danzig nach Deutschland gekommen. Mit 25, zwei Jahre älter als ich es jetzt bin, hat sie ihr ganzes Leben in einen einzigen Koffer gepackt und ist mit meiner Oma in eine Kleinstadt an der Nordsee gezogen. Bis heute verstehe ich nicht, wie man sich von allen Orten in Deutschland ausgerechnet Brunsbüttel aussuchen kann, wo es mehr Schafe als Einwohner*innen gibt, und wo alle Frieda, Emma oder Johanna heißen, blonde Haare haben und miteinander verwandt sind.
Ohne Sprachkenntnisse hat sie in Deutschland, als älteste im Kurs, ihre zweite Lehre abgeschlossen und ein Kind bekommen. Meine Mutter wohnt heute in ihrem eigenen Haus, arbeitet seit 30 Jahren im gleichen Krankenhaus als Krankenschwester und ist seit 10 Jahren mit einem Mann zusammen, den sie in eben diesem Krankenhaus kennengelernt hat. Wolfgang, der Socken in Sandalen trägt, jeden Sonntag Tatort guckt und im Frühling bei 10 Grad die Grillsaison einleitet.

Wir haben immer schon viel gesprochen, auch über Polen. Aber weitgehend darüber, was es für mich bedeutet. Wie schwer es für mich ist, an Familienfeiern im Gespräch mit meinen gleichaltrigen Cousins und Cousinen händeringend nach Worten zu suchen; verzweifelte Versuche, einen Witz zu machen, der zeigen soll „wie ich wirklich bin.“

Dass meine Mutter dieses Gefühl nicht nur auf Familienfeiern, sondern immer hat, war mir lange gar nicht bewusst. Ich dachte immer, sie sei einfach eher der ruhige Typ, der am Tisch keine großen Reden schwingt, sondern eher zuhört, der zwar meine Witze oft nicht versteht, aber selbst auch keine bringt. Dass sie vermutlich einfach nicht lustig ist. Der einzige Witz, der regelmäßig kommt, ist der, dass sie Analphabetin ist. „Ich kann nicht richtig deutsch, aber polnisch auch nicht mehr so wirklich.“ Wir lachen dann meistens kurz und reden dann weiter über, richtig, mich.

Meine Mutter äußert sich nur selten sehnsüchtig über ihre Herkunft. Früher noch deutlich öfter als heute. Sie sagt höchstens mal, dass sie die S-Bahn in Hamburg an Danzig erinnere und freut sich, wenn unsere Verwandten beim Besuch richtig gute polnische Wurst mitbringen. Sie kennt keine polnischen Musiker*innen, braucht noch länger dafür, polnische Texte zu verstehen als deutsche und über die polnische Politik weiß sie nur das, was in der deutschen Tagesschau gezeigt wird. Trotzdem kann absolut niemand ihren Namen richtig aussprechen und ihre Herkunft ist oft das Erste, wonach sie gefragt wird.
Wie ich mich identifiziere, ist keine Frage. Darüber, wo sie sich zuhause fühlt, haben wir aber noch nie gesprochen. Ist sie angekommen?

Wir telefonieren. Es scheint mir, als freue sie sich, dass jemand ihr Fragen stellt, und sie mal nur über sich reden kann. Ich stelle die erste Frage: Wie sie sich identifiziert. „Ich… Als Europäer. Ich bin Deutsche, aber ich kann das nicht verdrängen, dass ich aus Polen komme. In mir ist auch polnisches Blut. Da ist meine Jugend, meine Kindheit. Ich bin halb, halb. Aber ich fühle mich als Deutsche. Aber ich kann auch Polen nicht verdrängen, das geht nicht. Ich bin zwar 100%ig angekommen, aber die Sehnsüchte sind immer da.“

Okay, das war eine Frage zum warm werden, auch die Antwort kommt mir noch nicht ganz natürlich vor. Aber dass sie keine eindeutige Antwort gibt, hätte ich mir auch vorher schon denken können.
Ich frage also, welche Rolle ihre Herkunft dabei spielt, wie sich sich identifiziert. „Ist wichtig“, antwortet sie. „Weißt du, ich komme aus einem christlichen Arbeiterland. Es spielt eine große Rolle, von wo du kommst. Arbeiten, fair sein, fleißig… dass nichts vom Himmel fällt… Das alles habe ich in Polen gelernt, und das kann ich hier alles weiterleben. Menschen respektieren, das ist schon wichtig.“

„Und was ist Heimat für dich?“, frage ich. „Oh Gottes Willen. Heimat für mich ist…“ Pause. Sie überlegt. Meine Mutter ist niemand, der Sachen wie „home is where your heart is“ sagt, generell ist sie ein eher pragmatischer Mensch, der nicht unbedingt über den Sinn des Lebens nachdenkt.
„Naja, wo ich Arbeit habe, wo ich Familie habe,…“, sagt sie. Ich unterbreche, dass ihre ganze Familie, ihre Brüder, Cousinen, Neffen und Nichten aber in Polen geblieben sind. „Aber die wichtigsten Personen, dich und Oma, habe ich hier.“ Arbeit und „die wichtigsten Personen“ scheinen also zu reichen, um Heimat für sie zu definieren.

Mein Zuhause ist kein Ort, das bist du.

Fynn Kliemann

Sie überlegt dann lange. „Weißt du, Europa, das ist alles so bisschen ähnlich.“ Klar, weder die Kultur ist groß anders, noch ist die Distanz nach Polen unüberwindbar. Mit einer Stunde Flugzeit oder einer 8-stündigen Autofahrt ist es schon machbar, sich mehrmals im Jahr zu sehen. Scheint also kein Thema zu sein.

Sie spricht dann weiter, und ich merke, wie sie richtig auftaut und dabei immer mehr zu erzählen hat: „Heimat sind auch Rituale, zum Beispiel Weihnachten, dass ich das hier weiterleben kann, was ich in der Kindheit gelernt habe, dass man hier in Ruhe leben kann, arbeiten, dass meine Familie auch glücklich ist. Soziale Kontakte, die baut man mit den Jahren auf. In Polen kenne ich niemanden mehr, das ist alles verloren gegangen durch die Ausreise. Aber ich vermisse auch die polnische Mentalität, aber das hat jeder… wo man groß geworden ist. Ich habe schließlich 25 Jahre in Polen verbracht.“

„Aber am Anfang bricht die Welt zusammen, das muss ich sagen, man vermisst die einfachsten Sachen, in dem Land, das man verlassen hat, auch wenn man vorher nicht viel hatte. Auch dass man die Sprache nicht kennt. Das ist schon ein harter Weg.“

Sprache, unser Lieblingsthema. Ich frage also, wie wichtig Sprache dabei ist, dass man sich in einem Land angekommen fühlt. Ehrlich gesagt war ich mir sicher, dass sie sofort zubeißt und genau das sagt, was ich erwarte: Dass Sprache das Wichtigste ist, um sich als Deutsche zu fühlen. Stattdessen überlegt sie lange und sagt dann: „Ich weiß nicht, ob das von der Sprache abhängig ist. Man hört ja gleich, dass ich nicht aus Deutschland komme, aber das stört mich nicht. Man verliert den Akzent nicht, ich akzeptiere das, mein Umfeld akzeptiert mich. Das ist meinem Umfeld egal. Ja, ich möchte perfekt deutsch sprechen, aber das ist unmöglich.“

„Aber manchmal merke ich das. Manchmal gibt es so Situationen, wo manche Leute… also nicht mein Umfeld… sondern Patienten… nicht so viel Vertrauen haben. Das ist schon vorgekommen, durch die Sprache wird man abgestempelt. Auf dem Amt zum Beispiel auch. Beim Telefonat. Ich kann mich durchsetzen, aber manchmal merkt man, dass die Sprache Einfluss hat, wenn man mich nicht kennt. Hier auf dem Dorf zumindest. In Berlin bestimmt nicht.“ Dann lacht sie. Ich frage mich, wer sie wäre, könnte sie alles so ausdrücken, wie sie es will. Dass sie es nicht kann, scheint sie nicht zu stören. Warum ist es für mich ein Problem? Ich schäme mich, dass ich in den allerhässlichsten Streits auf dem Höhepunkt meiner Pubertät angefangen habe, ihre sprachlichen Fehler zu korrigieren, wenn mir die Argumente ausgegangen sind.

„Bevor du geboren wurdest, war ich noch so hin- und hergerissen. Deutschland ist aber mit deiner Geburt noch mehr zu meiner Heimat geworden.“ Ich frage, ob Wolfgang auch eine Rolle dabei spielt. „Ja, schon.“ Mehr als das sagt sie dazu aber nicht.

„Glaubst du, du wärst jemand anderes, wärst du unter anderen Bedingungen aufgewachsen?“ Eigentlich gibt es eh nur eine Antwort auf die Frage. „Ja logo.“, bestätigt sie also.
„Guck, ich bin im Kommunismus groß geworden. Das habe ich am Anfang auch in der Schule (Anm. d. Redaktion: Krankenpflegeschule) gemerkt. Man durfte ja nichts sagen. Wenn ich mich jetzt mit dir vergleiche, das ist so ein großer Unterschied. Am Anfang hier hatte ich solche Angst was zu sagen, das ist die kommunistische Erziehung. Ich war nicht so frei wie jetzt.“

„Ich wäre bestimmt ein anderer Mensch geworden, wenn ich hier groß geworden wäre. Familie da lassen, hier sich das alles aufzubauen, das prägt den Menschen. „

Meine Frage, wie sie sich ohne Fremddefinierung und den „Stempel“ von außen definieren würde, versteht sie nicht. Zugegeben, ist sie ein bisschen schwierig. Meine Mutter sagt, sie sehe sich selbst nicht als die Ausländerin im Bekanntenkreis. „Trotzdem wäre es einfacher im Alltag, ohne den Stempel. Auch nach 32 Jahren hat man ihn noch.“

Ich formuliere die Frage um und frage weiter: „Wenn alle Deutschen dich als Deutsche sehen würden, würde das was ändern?“ „Ja, das wäre bestimmt schön.“ sagt sie nur. Beinahe habe ich den Eindruck, dass ich mit meinen Fragen eine bestimmte Art von Antwort erwarte, die einfach nicht kommt. Meine Mutter sieht die Welt anders als ich, deutlich einfacher. Sie ist hier zuhause, weil hier ihre Arbeit, ihr Partner und ihr gemeinsamer, weitgehend deutscher, Bekanntenkreis ist. Der „Stempel“ ist ihr egal.
Ich frage, ob es sie nerve, dass Leute fragen, wo sie herkommt. Nein, das störe sie gar nicht. Trotzdem erzählt sie mir dann von sich aus eine Geschichte.

„Neulich hat mich eine Patientin so nett gefragt: „Schwester, von wo kommen Sie?“ Das ist lieb gemeint. Der war das egal, wo ich herkomme, weil ich eine gute Krankenschwester bin. Ich weiß aber nicht, wie es wäre, wenn ich unter ihnen stehen würde. Irgendwas strahlt der weiße Kittel ja aus. Aber ich habe ein paar Mal Schikane erlebt. Ein Mann, da war ich noch Schülerin, wollte nicht von mir behandelt werden. Ein Nazi. Und ein Opa hatte auch ein Problem mit mir. Und einmal haben mich meine Kollegen auch vor einem Rechtsradikalen gewarnt. Ich habe den dann trotzdem behandelt, und er war doch ganz nett. Das war aber vor 30 Jahren.“

Beinahe unsensibel bohre ich weiter: „Wenn du die Wahl hättest, würdest du den Akzent ablegen?“ „Ich würde gerne besser deutsch sprechen,“ sagt sie „Aber ganz würde ich ihn nicht ablegen wollen. Das würde zwar die Kommunikation einfacher machen mit dir, aber ich werde das immer zugeben, dass ich aus Danzig komme. Weißt du, in Deutschland bin ich denke ich oft die Polin, in Polen die Deutsche. Aber in beiden Ländern sage ich selbst von mir, ich bin Deutsche. Auch im Ausland, wenn mich jemand auf Englisch fragt, wo ich herkomme, sage ich Deutschland. Die gucken dann nur immer verwirrt wegen meinem Akzent.“ Und wieder lacht sie. Kurz bevor wir auflegen sagt sie noch:

„Aber du musst schreiben, dass die Person Krankenschwester ist. Dass sie trotz allem das geschafft hat. In Deutschland. Das ist wichtig.“


Was passiert aber, wenn man selbst sein Heimatland nicht verlässt, sich aber trotzdem über Nacht alles um einen herum ändert? So wie für Lisas Mutter, die ebenfalls ihre Identität hinterfragen musste, als sie nach über dreißig Jahren plötzlich nicht mehr Ostdeutsche, sondern Deutsche war. Lisa führte mit ihr ein Gespräch darüber, was es bedeutet, wenn die eigene Identität mit der eines anderen Landes konfrontiert wird.

hinterfragen

Photo by Eric Ward on Unsplash

Ich bin ein sogenanntes Nachwendekind, 1996 geboren. Erzählt meine Mutter von früher, so fällt dieser Begriff recht häufig, „Wende“. Als ich noch sehr klein war, sagte mir das erstmal noch gar nichts. Erst später realisierte ich, dass es sich bei dem Begriff um die Berliner Mauer drehte bzw. um ihren Fall, aber auch um die Wiedervereinigung – eine Wende im doppelten Sinne. Lange Jahre meines Lebens schien diese ominöse Wende keine Rolle zu spielen; dachte ich zumindest. In der Schule lernte ich zwar irgendwann, was die Berliner Mauer war, doch für mich war es eher wie eine abgehakte Geschichte, etwas, das heute keine Bedeutung mehr hat. Erst in den vergangenen paar Jahren verdichtete sich das Bild ein wenig, vor allem durch mein Ethnologie-Studium, aber eben auch durch meine Mutter, die mich gefühlt zu jeder DDR-Ausstellung mitschleppt und sich oft mit mir über dieses Thema unterhält. Doch heute ist es ein Gespräch mit einem bestimmten Fokus. Ich frage mich, wie sich so etwas Gravierendes wie die deutsch-deutsche Teilung und danach die Wiedervereinigung auf die eigene Identität, aber auch auf die persönliche Vorstellung von Heimat auswirkt. Wir unterhalten uns in ihrer Küche.

Meine Mutter wurde 1956 in Berlin geboren, während des Studiums ihrer eigenen Mutter. Fast ein wenig stolz erzählt sie, dass die Milch für sie in der Ackerstraße geholt wurde, in deren Nähe sie heute einen eigenen Laden hat. Ihr Leben sei bewegt gewesen, sagt sie. Als uneheliches Kind wäre sie für ihre Mutter zu der Zeit „schwer zu händeln“ gewesen. Noch vor dem ersten Lebensjahr wurde sie übergangsweise bei ihren Großeltern in Erfurt untergebracht, in deren Haushalt auch noch der jüngste Sohn lebte. Während meine Mutter ihre frühen Kindheitserinnerungen beschreibt, fühle ich mich an einen Film erinnert. Sie erzählt von ihrem Onkel, der zu dieser Zeit ein Teenager war, auf einer Simson SR2 (auch „Hühnerschreck“ genannt) „durch die Gegend gurkte“ und von den Rock ‘n Roll hörenden Jungs, die zu dieser Zeit offenbar alle eine Elvis-Tolle trugen. Erst jetzt wird mir so richtig bewusst, in was für einer Zeit sie großgeworden ist und ich muss automatisch an Schmuse-Rock und laue Sommernächte denken. Meine Mutter lächelt, wenn sie davon erzählt. Die gute Zeit bei ihren Großeltern wirkt ein bisschen wie ein friedlicher Fixpunkt in ihrem Leben. Seien es die stundenlangen Wanderungen mit ihrem Opa, auf denen er ihr „die Welt erklärte“ oder die Knopfkisten ihrer Oma, die Schneiderin war und mit der sie viel Zeit verbrachte.

Fotografin: Sieglinde Schellig

Als die Mauer im August 1961 gebaut wurde, war meine Mutter gerade fünf Jahre alt. Sie erinnert sich noch daran, wie ihre Eltern und der Großvater zusammen im Wohnzimmer saßen und mit angespannten Mienen dem Rundfunk lauschten.

„Ich weiß, dass an dem Tag mein Großvater da war und die ganze Familie völlig betreten und schweigsam vor‘m Rundfunk saß. Und als ich da irgendwas geplappert habe, da wurde ich ziemlich harsch zurückgewiesen und bekam gesagt, ich solle bitte schön ruhig sein. Aber ich habe gemerkt, es war eine ganz bedrückte Stimmung, die, also für mich, auch sowas Fassungsloses an sich hatte. Man wollte es einfach nicht begreifen, man konnte es nicht verstehen, was da passiert ist, es fühlte sich ziemlich mies an. Und wenn es um Beschreibung in Musik geht, was Düsteres in Moll. So wie im Krimi. Dann, wenn gleich was ganz Schlimmes passieren wird, so war die Stimmung.“

Viel von dem, was da gesagt wurde, verstand sie nicht, doch selbst für ein Kind war die beklemmende Stimmung förmlich greifbar. Auch die Angst der Erwachsenen davor, wie es jetzt weitergehen werde. Dieses Gefühl sei auch danach noch deutlich spürbar gewesen und prägend für diese Zeit. Was der Mauerbau für sie verändert habe, frage ich. Mal abgesehen von unmöglich gewordenen Besuchen bei der Westverwandtschaft, zunächst nicht viel, antwortet sie mir. Ein paar kleinere Reibungspunkte habe es schon gegeben, zum Beispiel als die regimetreue Klassenlehrerin Mickey Mouse-Hefte bei meiner Mutter fand.

Wenn ich dann so an meine eigene Schulzeit denke, kann ich mir nicht im Ansatz vorstellen, dass man für so etwas Lächerliches wie ein einfaches Comicheft in ernsthafte Schwierigkeiten kommen konnte. „Das war damals eine Zeit, wo man auch meinte, dass der Sozialismus die überlegene Gesellschaftsform ist, und so wurde das auch rübergebracht. Wir wurden schon geprägt in diese Richtung.“ Unterdrückt gefühlt habe sie sich trotz allem nicht. Manchmal vielleicht ausgehorcht, wenn in der Schule wieder Fragen zum heimischen Fernsehprogramm gestellt wurden.

„Aber eigentlich wussten auch alle, wenn die Antenne unter’m Dach war, dann war’s die Westantenne. Wir wussten, dass wir mit zwei Gesichtern gelebt haben, und das hat auch funktioniert irgendwie.“

Doch alle Prägung in der Schule konnte schon damals anscheinend nicht verhindern, dass Westradio und -fernsehen ihren Weg ins Wohnzimmer fanden. Ob es ein Beatles-Konzert ist, das sich der Stiefvater heimlich hinter verschlossenen Türen ansah, oder auch meine Mutter, die ‒ logischerweise ebenfalls heimlich ‒ die Musik des Westsenders Radio Luxemburg auf der störanfälligen Mittelwelle mit dem Tonbandgerät Smaragd aufnahm (Kassetten gab es noch keine). Was heute noch abenteuerlich klingt, hatte auch schon damals den Reiz des Verbotenen inne. Etwas lakonisch stellt meine Mutter dazu fest: „Also ich sag mal so, wir waren besser informiert über den Westen als der Westen selber.“ Das klingt provokant, aber es ergibt auch irgendwie Sinn, wie sie mir erklärt. Gerade weil es nicht gern gesehen worden sei, wurde das Interesse am Westen nur umso stärker geweckt. Auf die Jugend allgemein, die ja fast per Definition gegen alles ist, was Eltern und Lehrer sagen, trifft das sowieso zu. Unangepasst zu sein (und scheinbar angepasst zugleich), gehörte einfach dazu. Doch auch wenn die Faszination Westen groß gewesen sei, hätten sie viel Musik aus der DDR gehört, wie zum Beispiel Karat, Puhdys oder Silly. Der Reiz der Ost-Musik habe dabei vor allem im Ungesagten gelegen. „Ich hab diese Musik nicht schlecht gefunden, weil sie oft poetisch war, weil die Sänger dort etwas in den Text bringen mussten, was sie nicht sagen konnten. Sie mussten das also sehr geschickt verpacken, in sehr zweideutige Formulierungen oder irgendwie in ‘ne andere Ebene das legen, damit man sie nicht dort kriegen konnte.“Auf musikalischer Ebene findet es meine Mutter daher gut, die Einflüsse von beiden Seiten zu haben. Für sie und auch für meine beiden Geschwister, die ’79 und ’80 geboren und damit waschechte Wendekinder sind, trägt die DDR-Musik noch einen sehr persönlichen Wert.

Das Aufwachsen in so einer vielschichtigen Umgebung prägt. Obwohl meine Mutter bei vielen Erinnerungen an damals lacht oder schmunzelt, war doch auch nicht alles so unbekümmert, wie es zunächst scheint. Da war zum Beispiel die eine Freundin, die im Elternhaus meiner Mutter nicht willkommen war. Während es ihr als Kind noch rätselhaft erschien, warum sie nicht erwünscht sein sollte, ging ihr viel später „ein Licht auf“, dass der Vater besagter Freundin ein „ganz hohes Tier“ an der Leipziger Karl-Marx-Universität war und auch bei der Partei hohes Ansehen genoss. Die Angst vor dem Ausgehorcht-Werden war also doch auch allgegenwärtig gewesen, zumindest bei den Erwachsenen. Für meine Mutter hieß das acht Jahre lang heimliches Spielen mit der besten Freundin. Was heute für mich undenkbar klingt, war auch für meine Mutter sehr hart, vor allem weil sie es nicht verstand. Was macht das mit einem Kind, wenn es unter solchen Bedingungen aufwächst? Zwar lacht sie, als sie das mit dem heimlichen Spielen erzählt, doch ich spüre, dass sie es vielleicht doch nicht immer so leicht nahm wie jetzt.

Alles in allem spiele an prägenden Werten aber vor allem Solidarität eine wichtige Rolle, wenn sie an das Leben in der DDR zurückdenkt. „Weniger Eliten.“, sagt sie. „Und damit war man irgendwie ziemlich gleich, der Nachbar unterschied sich nicht, der hatte och nur’n Trabi vor der Tür stehen, wenn er überhaupt einen hatte. Und nur jeder Fünfte hatte ein Telefon, die waren da auch schon privilegiert… Aber es gab eben nicht diese Eliten, die meinten, sie sind was Besseres…Dieses Elitendenken kommt ja erst, wenn man Macht und Geld hat, dann kommt das, vorher ist das ja nicht da.“

Auch im familiären Umfeld war diese Solidarität sehr wichtig. Durch den Mauerbau waren ja die meisten Familien in der gleichen Situation, Verwandte im Westen zu haben, die sie nicht besuchen konnten. Das Verschicken der heißbegehrten Westpakete bot hier einen kleinen Ersatz. Da musste dann draufstehen „Geschenksendung – keine Handelsware“. Trotz räumlicher Trennung schaffte die Teilung so auf ihre eigene Weise auch eine Form von Nähe und Kontakt.

„Und dann kam die Wende. Und die Wende war für mich zunächst mal ein Moment…wo der Druck aus dem Topf konnte, die Visionen, die Pläne und die Träume, die man zu Ostzeiten auf jeden Fall nicht verwirklichen konnte, die konnten auf einmal realisiert werden. Und da hatte ich explosionsartig Möglichkeiten und natürlich Arbeit.“

Doch irgendwie schien nach der Wiedervereinigung auch Stück für Stück diese Solidarität zu bröckeln, die vorher vielleicht auch aus der Not heraus geboren worden war. Während es im von der Nachkriegszeit geprägten Osten und Westen kurz nach der Trennung noch recht ähnlich zugegangen sei, seien nach dem 3. Oktober 1990 zwei Welten aufeinandergeprallt. Aufgrund von unschönen Ereignissen und einer Reihe persönlicher Enttäuschungen ist der Weg meiner Mutter seitdem oft steinig gewesen. Auch viele der Beziehungen in den Westen seien zu dieser Zeit zerbrochen. Der gewaltige gesellschaftliche Umbruch sorgte in ihrem Fall dafür, dass sich Menschen aus dem Umfeld veränderten, die neue Situation für sich nutzten und Macht und Geld immer mehr im Mittelpunkt standen. Insbesondere Geld hätte vor der Wende keine so große Rolle gespielt wie danach. Es sei nicht so gewesen, dass es keines gegeben hätte, nur fehlte das nötige Angebot um sich mehr als die Waren des täglichen Bedarfs oder mal ein Auto zu leisten, sagt sie. Trotz vieler Rückschläge ist sie sich aber auch sicher: „Ich fühle mich nicht als benachteiligter Ossi.“

Zwar hat sie vieles von damals seither nicht losgelassen, doch sie hat neu angefangen, inzwischen eine große Familie und besitzt seit fast zwanzig Jahren einen eigenen Blumenladen. Interessanterweise war es dabei der Ort ihrer Geburt und nicht ihrer Kindheit, den sie seit fast vierzig Jahren ihre Heimat nennt. Irgendwie sei Berlin der Ort gewesen, an den es sie immer wieder zurückgezogen hätte und auf den sich im Laufe der Jahre viele wichtige Aktivitäten, wie Familie oder Arbeit konzentriert hätten. Und während viele ihre Heimat dort sehen, wo sie aufgewachsen sind, ist sie für meine Mutter vor allem eines: Nämlich ein Ort, an dem man auch sein will. „Meine Wurzeln sind in Berlin und das ist für mich auch Heimat; hier fühle ich mich wohl, hier habe ich den allergrößten Teil meines Lebens verbracht und das ist für mich Heimat eben. Ich fühl mich hier zuhause, ich hab hier einfach soziale Kontakte und meine Wurzeln. Und die würd‘ ich nicht mehr woanders haben wollen.“

Während hier in Berlin jeder Ecke, jedem Späti jahrzehntelang Bedeutung verliehen war, sind die Orte ihrer Kindheit in Erfurt oder Leipzig mittlerweile fremd geworden. Das seien „verschlossene Türen“, doch meine Mutter findet das nicht schlimm. Erinnerungen könne man schließlich auch im Herzen tragen. In Bezug auf ihre Herkunft steht für sie fest: „Ich komme aus dem Osten.“ Das sei auch ein wesentlicher Bestandteil ihrer Identität. Obwohl dieser Staat noch gar nicht existierte als sie geboren wurde und auch jetzt nicht mehr da ist. Es ist das, was sie kennt und mit dem sie großgeworden ist. Zu Ostzeiten hätte sie sich nicht unbedingt als Deutsche bezeichnet, eine für mich heute selbstverständliche Sache. So gesehen auch eine Art von Migration ‒ wenn auch an unvermuteter Stelle. Sie bewertet das positiv.

„Ich betrachte es als Bereicherung, weil ich einen anderen Blick auf die Dinge des Lebens habe. Vieles weiß ich anders zu schätzen, weil ich es mal hatte, es verloren habe oder dazu gewonnen und die Dinge dadurch anders und vor allem kritischer und differenzierter bewerte.“

Dazu gehören bestimmte Werte wie Solidarität, aber auch Dinge wie Sparsamkeit, die sie aus Kindheit und Jugend kenne. Das eingeschränkte Angebot an bestimmten Waren habe dazu geführt, dass jedes verschlissene Kleidungsteil noch einmal umgenäht wurde und ein Großteil an Gemüse aus dem Garten hinter dem Haus kamen. Doch nicht nur Ressourcen, auch die Bedeutung einer Arbeitskraft gehöre hier dazu, sagt sie und setzt, leidenschaftlich wie immer, zu einer Rede über die zunehmende Bestellsucht via Amazon und Co. an.

Vom Renteneintritt, der theoretisch in zwei Jahren ansteht, wolle sie noch nichts wissen ‒ dafür hätte sie noch viel zu viel vor. Sich selbst und seinen Zielen trotz Widrigkeiten im Laufe des Lebens treu zu bleiben sei hart, doch genau das mache die eigene Identität aus, sagt sie.

„Ich bin sogar eigentlich ein bisschen stolz drauf […]. Das ist für mich Identität.“

Ich frage mich, was der Werdegang meiner Mutter damit zu tun hatte, dass ich geworden bin, wie ich heute bin. Seitdem mir vor wenigen Jahren jemand einmal die Frage stellte, ob ich mich als ost- oder westdeutsch sozialisiert betrachten würde, habe ich mich häufiger gefragt, was das eigentlich heißt. Dass ich zum Beispiel oft Plaste statt Plastik sage und das Wort Aktendulli kenne? Oder dass ich im Supermarkt lieber zu Kathi statt Dr. Oetker greife? Dass ich die 3€-Pantoffeln von IKEA lieber nochmal repariere als mir einfach neue zu kaufen? Mittlerweile bin ich mir ziemlich sicher: Obwohl ich nicht in der DDR geboren wurde, trage ich einen Teil von ihr auch in mir. Natürlich ist mir das an vielen Stellen nicht bewusst, aber ich bin dabei mich zu sensibilisieren. Immerhin gehört das auch zu meiner Identität.


In den dreißig Jahren seit dem Mauerfall hat sich Berlin stark verändert und neue, anders aufgewachsene Generationen sehen inzwischen hier ihr Zuhause. Was das neue Berlin für das Verständnis von Heimat und Identität für junge Berliner*innen bedeutet, hat Marie herausfinden wollen. Sie hat sich dazu mit jemandem getroffen, der so ganz anders aufgewachsen ist als sie selbst.

dazugehören

Fotografin: Marie Eisenmann

Linus ist sechzehn Jahre alt. Seinen Namen habe ich geändert. Er möchte lieber anonym bleiben. Nicht weil er sich schämt für das, was er mir erzählt, sondern weil er findet, dass auch nicht alles im Internet etwas zu suchen hat. Er ist gebürtiger Berliner und mit zwei Müttern aufgewachsen. Sein Vater lebt in München. Seine eine Mutter kommt ursprünglich aus England, die andere ist Deutsche. Inzwischen leben sie getrennt voneinander. Er lebt damit ein Familienmodell, das nicht der traditionellen Vorstellung entspricht und darum immer noch häufig mit Vorurteilen verknüpft ist.

Anfangs zweifele ich noch, wie viel ein Sechzehnjähriger die Begriffe Zuhause und Identität reflektiert. Schließlich wird die Verbundenheit zur Heimat häufig erst dann offensichtlich, wenn man sie einmal länger verlassen hat. Das Gewohnte, das einen tagtäglich umgibt, wird selten hinterfragt. Linus, der immer noch die Schule besucht, hat noch nie in einer anderen Stadt gelebt als Berlin. Ich frage ihn zunächst, worüber er sich definiert. Er habe zwar bisher noch nicht bewusst darüber nachgedacht, sagt er, er fühle sich jedoch als aktiver Bürger Berlins und Deutschlands. Zwar spiele seine Herkunft für ihn nicht immer eine große Rolle, aber er möge es, sich als Berliner zu identifizieren. „Das ist schon irgendwie eine Art Statement.“ Als gebürtiger Berliner gehört er in Berlin fast einer Minderheit an. Nur 48% der Berliner*innen sind keine Zugezogenen.

Vermutlich hätte er andere Erfahrungen gemacht, gerade was seine Familie betrifft, die nicht dem klassischen Bild von Vater-Mutter-Kind entspricht, wäre er nicht in Berlin großgeworden, meint er. Natürlich könne man sich da aber nie so sicher sein. Er spricht dabei einen Punkt an, der viele Leute in die Metropole zieht. In Berlin ist Andersartigkeit keine Schwäche. Da ist es nicht ungewöhnlich, aus einem anderen Land zu kommen, eine andere Sexualität oder Religion zu haben. Hier ist man eine*r unter vielen und kann sein, wer man will. Hier ist jede*r seine/ihre eigene Geschichte in einem dicken Buch, das viele Menschen lesen, ohne je über das betreffende Kapitel zu stolpern.

Als ich Linus frage, was für ihn Zuhause bedeutet, ist seine Antwort allerdings nicht mehr so eindeutig. Einerseits sei das in erster Linie Berlin, aber nicht ein bestimmter Ort in dieser Stadt. Da gebe es das eine Wohnhaus, in dem seine eine Mutter und er schon sein ganzes Leben lang wohnen würden und dann sei da das andere, in dem er mit seiner anderen Mutter vor drei Jahren eingezogen sei. Beide Orte seien Zuhause für ihn und doch sei Zuhause mehr als diese Orte. Neben der deutschen Hauptstadt sei mitunter Großbritannien, das Herkunftsland seiner Mutter, ein wichtiger Ort für ihn und er genieße es, die Möglichkeit zu haben, in eine andere Kultur einzutauchen. Zuhause sei jedoch auch abhängig von den Menschen, die ihn umgeben. Selbst wenn er sich nicht aufhalte, wo er wohne, fühle er sich zuhause, wenn er bei seiner Familie ist.

„Ich hab keine Heimat, ich hab nur dich. Du bist Zuhause für immer und mich.“

Annenmaykantereit

Dabei habe sich Linus‘ Verständnis von Zuhause mit der Zeit jedoch gewandelt. Als seine Eltern noch zusammen waren, da sei sein Zuhause ein fester Ort gewesen. Da dachte er sich noch: „Hier bin ich, hier wohn‘ ich, hier ist mein Leben und deswegen ist das Zuhause.“ Aber mit der Trennung seiner Eltern sei dieser Ort geteilt worden und sein Zuhausegefühl habe sich auf mehrere Räume in der Stadt verteilt. Heute sei auch die Schule ein Art Zuhause für ihn, schließlich verbringt man dort als Kind oder Jugendliche*r vermutlich mehr Zeit als andernorts.

Wir kommen schließlich mehr auf seine Familiensituation zu sprechen. Kinder mit homosexuellen Eltern sind nach wie vor ein kontroverses Thema in Deutschland. Erst seit 2017 mit der Öffnung der Zivilehe für gleichgeschlechtliche Paare ist es homosexuellen Paaren möglich, Kinder zu adoptieren. Das bedeutet nicht, dass die Diskussionen, ob homosexuelle Paare Kinder haben sollten, aufgehört haben. Linus wünscht sich in solchen Momenten mehr Toleranz. Er spricht darüber, dass es zwar nicht schön zu hören sei, wenn vor allem im Netz diese Meinungen kursieren, er inzwischen aber auch nicht mehr schockiert sei von der Kritik. Er sei optimistisch, dass sich unsere Gesellschaft positiv entwickle und sich durch Zeit die Akzeptanz von allein einstellen werde. „Es steckt vor allem in den Köpfen der älteren Generation.“ Aber diese Generation lebe nicht ewig. Die Vorurteile kämen durch die fehlende Sensibilisierung für das Thema. Was anders wahrgenommen werde, sei erstmal fremd und werde daher nicht als normal angesehen. Weil ein Kind, das mit zwei Müttern oder zwei Vätern aufwächst, nicht dem traditionellen Familienbild entspreche, das in unserer Gesellschaft herrsche, fehle seiner Meinung nach die Toleranz, das zu akzeptieren, was von der Norm abweiche. Er hält es für wichtig, dass öffentlich über das Thema gesprochen wird, aber aus der Perspektive derjenigen, die selbst Erfahrungen mit der Thematik machen. Es helfe, offen darüber zu sprechen, aber es helfe nicht, zu diskutieren, ob Kinder in Regenbogenfamilien unter schlechteren Bedingungen aufwachsen. Was inzwischen durch mehrere Studien auch eindeutig widerlegt wurde.

Mit negativen Reaktionen ist Linus selbst nicht häufig konfrontiert. Viele würden eher überrascht reagieren, wenn er davon erzählt, dass er nicht mit einer Mutter, sondern gleich mit zwei Müttern aufgewachsen sei. Wenn er danach gefragt wird, habe er kein Problem, darüber zu sprechen. Aber auch nicht mit jedem. Gerade Leute, die er kaum kennt, gehe es nichts an, wie er aufgewachsen sei oder mit wem er lebe, sagt er. Da gehe es allerdings nicht um Peinlichkeit, um Scham, sondern um Privatsphäre. Man erzählt schließlich nicht jedem seine Lebensgeschichte, man geht auch nicht auf jeden zu und erzählt ungefragt: Meine Eltern sind homosexuell. Als er noch jünger war, habe ihn die Frage, ob er darüber sprechen soll, noch mehr beschäftigt. Nicht nur mit Fremden, sondern auch mit Leuten, die er gut kennt, sei da diese Unsicherheit gewesen. „Soll ich das sagen, ist es zu privat?“ Er habe sich nie für seine Eltern geschämt, aber er habe gewusst, dass seine Art, aufgewachsen zu sein, nicht für jeden gewöhnlich ist. Er habe nicht einschätzen können, wie es aufgenommen werden würde. Mittlerweile erzähle er gerne von seiner Familie und sei sogar ein bisschen stolz. „Es ist auch immer eine interessante Geschichte, vor allem wenn du weißt, dass Menschen darauf nicht negativ reagieren werden.“

Damit gestalte er selbst das Bild mit, meint er. Weil durch ihn andere Leute mit dem Thema in Berührung kämen, gerade diejenigen – und damit meint er vor allem andere Kinder und Jugendliche – die von zuhause eben nur das klassische Familienbild kennen. Immer wieder Thema ist in unserem Gespräch aber auch, dass diese Erfahrungen in Berlin vermutlich anders ablaufen als an anderen Orten, weil hier Homosexualität offener gelebt wird, sichtbarer ist. Berlin gilt als Weltstadt der LGBTIQ-Community, hier kommt der CSD einem Feiertag gleich. Die Pride-Flagge ist in jeglicher Form ein Accessoire der Stadt. Berlin schmückt sich mit Unvoreingenommenheit und Liberalität.

Fotografin: Marie Eisenmann

Linus erzählt außerdem, welche Rolle seine Familie für seine Identität spiele. Von Kindesbeinen an sei ihm vorgelebt worden, dass Homosexualität normal sei, eine Realität, mit der Kinder von heterosexuellen Paaren meist viel später konfrontiert werden würden. Das habe ihn offener und toleranter gemacht, vermutet er.

Weil ich mich dafür interessiere, in welcher Beziehung unsere Identität zu Familie, Erfahrungen, Heimat und Herkunft stehen, frage ich ihn, ob er glaubt, dass er seine Identität selbst gestaltet oder er von äußeren Umständen definiert wird.

„Eine Mischung aus beidem. Ich bin mein eigener Mensch und entscheide, was ich machen will und was ich nicht machen will und wer ich bin.“

Er wirft jedoch die Frage auf, ob das nicht ganz anders sein könnte, wenn er woanders unter anderen Bedingungen aufgewachsen wäre, wo Homosexualität beispielsweise nicht selbstverständlich ist. Gerade politische Meinungen würden häufig dadurch geprägt, wo und wie man groß wird. Das liegt allerdings nicht in unserer Hand. So beeinflusse ihn neben seiner Familie auch seine Heimatstadt, was seine politische Grundeinstellung angehe. Das lässt sich auf trivialeren Ebenen genauso beobachten. Stichwort Style. Man ziehe das an, was man cool finde. Und was man cool finde, kristallisiere sich aus dem heraus, was man am meisten sehe. In der Art und Weise, wie man sich kleide, drücke man seine Zugehörigkeit aus, die aus dem Wunsch resultiere, nicht anders sein zu wollen als der Rest. So hätten wir großen Einfluss auf unsere Identität und dieser nehme vielleicht auch den höchsten Stellenwert ein. Letztlich seien wir aber genauso Produkte unseres Umfelds.


Where do you come from? Mit dieser einfach erscheinenden Frage beginnt Pico Iyer seinen Ted Talk. Iyers Wurzeln liegen in Indien, er ist in England geboren und aufgewachsen, hat den Großteil seines Lebens in Amerika gelebt und verbringt heute die meiste Zeit in Japan. Was ist also Zuhause für ihn?
Zuhause hängt mehr mit Gefühlen zusammen, als mit einem Stück Erde. Es ist ein sich immer weiterentwickelndes Projekt, das jeder immer mit sich trägt, und das stetig verändert wird. Auf unserem Weg kommen immer neue Teile hinzu, die unser Zuhause definieren.
Ebenso wie jeder Zuhause individuell definieren und kreieren kann, kann jeder sein eigenes Ich gestalten. Auf der Suche danach, wer wir sind, führt allerdings kein Weg an der Frage vorbei, wieso wir sind, wie wir sind. Und dieses Wieso liegt oft begründet in unseren Wurzeln. Das bedeutet für manche ein bestimmtes Land, eine Region oder eine Stadt, für andere die Familie oder das soziale Umfeld. Wir wären nicht die Menschen, die wir sind, wenn wir woanders aufgewachsen oder in andere Familie geboren wären. Wir hätten andere Erfahrungen gemacht. Heimat ist der Ort, der mitbestimmt, wie unser Leben aussehen wird. Sie prägt unsere Mentalität, unsere Gewohnheiten, unsere Vorstellungen von einem guten Leben. Unsere Herkunft muss aber nicht unser Zuhause sein. Auch für Iyer ist Zuhause dort, wo wir sein können, wer wir sein wollen. „Home is not just the place where you happen to be born. It’s the place where you become yourself.“


Titelbild-Konzept von Juliane Herbst

Likes, Klicks, Provokation – Was ein Musikvideo erfolgreich macht

Das Musikvideo ist längst nicht mehr das chaotische, willkürliche TV-Format der 80er/90er Jahre. Es ist mittlerweile zu einer ernstzunehmenden Gattung herangereift, die medial breit aufgestellt und in seiner globalen Wirkung nicht zu unterschätzen ist.

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Ob es Toni Watson, die australische Singer/ Songwriterin des Charts-Erfolgs Tones and I – Dance Monkey (2019) ist, die einen Song, ja, sogar ihr ganzes Album The Kids Are Coming (2019) nennt und sich damit der „Fridays for Future-Bewegung“ zumindest symbolisch anschließt; ob es Donald Glover mit Childish Gambino – This is America (2018) ist, der in seinem Video ein regelrechtes Massaker an der US-Politik veranstaltet und damit wildes Deutungsfeuer entfacht; oder ob es die drei Schwestern, der Band A-WA sind, die, durch ihren Song Habib Galibi (2016), den ersten arabischen Nummer-Eins-Hit in Israel landeten.

Tones & I , Childish Gambino und A-WA
Tones & I , Childish Gambino und A-WA

Das Musikvideo hatte schon immer großes Potenzial seine ZuschauerInnen in den Bann zu ziehen; zu bewegen, politisch, gesellschaftlich und emotional. Heute um so mehr! Manche Musikvideos verbreiten sich online virusartig über den ganzen Planeten und veranlassen, dass möglicherweise die halbe Menschheit dieses Video gesehen hat. Grund genug, genauer hinzuschauen:

Anfang 1986 wurde Michael Jackson’s „Thriller“ rund 750.000 Mal verkauft und soll bis heute das meistverkaufte Musikvideo der Welt sein. Die aufwendigen Kostüme, die spektakuläre Tanzperformance, die Story eines Kurzfilms machten dieses Musikvideo zum absoluten Muß der damaligen Zeit. Wie oft es gesehen wurde kann nicht ermittelt werden. Aber ein einziges Kind allein, schaute sich ganz sicher den Moonwalk 100te Male am Tag an, um ihn selbst zu versuchen. Man fragt sich nur, warum und wie die heutigen Videos an die Spitze der Statistiken gekommen sind und mit „Thriller“ ebenbürtig sein sollen.

Abspiel- und Klickzahlen sind heute bares Geld wert. „Despacito“ wurde Anfang 2017 veröffentlicht, knackte mit sechs Milliarden Aufrufen den Rekord und darf sich jetzt meist gesehene audiovisuelle Datei der Welt nennen. Binnen der ersten 24h nach Veröffentlichung auf Youtube war der Clip mit 5,1 Millionen Aufrufen das beliebteste spanisch-sprachige Video. Doch was wird dort gezeigt um so erfolgreich zu sein? Das Video ist im Barrio La Perla und der Bar La Factoria in der Altstadt von San Juan, Puerto Rico gedreht worden. Die Lebenskultur, die Landschaft, das posierende Model Zuleyka Rivera und die lateinamerikanische Tanzkultur sind Hauptbestandteile der Story, neben der Darstellung der Sänger. Carlos Perez, der Regisseur und Kameramann könnte man als ein „No-Name“ bezeichnen. Das Lied allein erinnert an Nicky Jam, Thalia oder Enrique Iglesias und wäre ein typischer One-Hit-Wonder eines Sommers. Es blieb aber nicht dabei. Was ist das Geheimrezept? Denn Daddy Yankee’s bisherige Videos mit ähnlichen Stilmitteln, „Made for now“, „Limbo„, „Dura„, generierten nicht im Ansatz so viele Klicks.

Tanzszene in „Despacito“

Die Fusion aus Latin-Pop und Reggaeton ist sicher ein Tanzgarant, die Models und TänzerInnen animieren auch es wiederholt anzuschauen. Aber 6 Milliarden mal?? Daddy Yankee zeigt sich in der oft platzierten heteronormativen Art, im Machismus, was auch nicht der Grund sein kann, warum das Video so beliebt ist. Aber eine Szene, die eines Tanzpaars, macht uns stutzig. Wir wollen die Szene nochmal sehen. Denn sie zeigt eine Frau, welcher die Hüfte ihres Tanzpartners so dermaßen zwischen die Beine gestoßen wird, dass es nach Schmerzen aussieht. Zurecht würden FeministInnen aus aller Welt diese Darstellung der Frau kritisieren. Nicht nur die: Die malaysische Regierung boykottiert diesen Song sogar und verbietet den Radiosendern das Lied mit misogynistischen Aspekten zu spielen, wie die AFP berichtet. Wenn solche Szenen dafür sorgen, dass Videos an die Chartspitze katapultiert werden und den Online-Surfern durch die hohen Klickzahlen Qualität suggerieren, ist das eine alarmierende Entwicklung, die bewusst gemacht werden sollte.

Aber nicht nur das: Es scheint überhaupt kein Problem zu sein, durch soziale Medien Klickzahlen zu kaufen, wie es, Ilhan Coskun des Y-Kollektiv in der Reportage „Der Rap Hack: Kauf Dich in die Charts! Wie Klickzahlen manipuliert werden“ selbst ausprobiert.

Y-Kollektiv – „Der Rap Hack: Kauf Dich in die Charts! Wie Klickzahlen manipuliert werden“

Auch Plattenlabels wie Warner analysieren die heutigen Videoplattformen genau und stellen sich gezielt darauf ein, hier ihre Künstlerprodukte zu platzieren, um an die Spitze der Verkaufszahlen zu kommen.

Künstlerüberblick von Warner Music Germany

2008 war der Youtube-Kanal der Universal Music Group mit fast drei Milliarden Aufrufen monatlich das präsenteste Musik-Label auf Videoplattformen und VEVO der meist gesehene Youtube-Kanal weltweit. Heute sind Plattenfirmen mit den digitalen Abspielformen, der Streaming-Dienste iTunes, Spotify und Soundcloud eng vernetzt. Der größte Zusammenschluss der Musikindustrie stellt VEVO (Sony Music Entertainment, Universal Music Group, EMI Music, Abu Dhabi Media Company) dar, welcher die Musikvideoinhalte der wichtigsten Künstlergruppen seit 2009 verwaltet und in Zusammenarbeit mit Google, Youtube, AOL und Yahoo flächendeckend zur Verfügung stellt. Mittels Werbeclips oder kostenpflichtiger Apps entwickeln sich Musikvideos jetzt erneut zu einem rentablen Geschäft. Die Musikindustrie schöpft also auch ohne Manipulation wieder aus dem Vollen, wie Alan Price, der Geschäftsführer von VEVO auf der Firmenwebseite deutlich verlauten lässt.

Wir treffen William Veder, freiberuflicher Designer, Fotograf, Musikvideoproduzent und Bandmember bei FlowinImmo/ et les FREAQZ aka Freaks Association Bremen an einem verregneten Montagnachmittag in Berlin-Kreuzberg. Der Kaffee dampft vor unseren Nasen auf dem Küchentisch. Musikvideos wurden dem, in den 70ern geborene Bremer so richtig bewusst seit Michael Jackson’s „Thriller“-Video. Das ließ er sich auf VHS zu schicken, weil es noch kein Kabelfernsehen gab, errinnert er sich. Eins wird schnell klar: Besonders die ästhetische Komponente hat es ihm angetan. Das reicht sogar so weit, dass er, gar keine Musik braucht, um sich für ein Musikvideo zu begeistern. Die visuelle Ebene ist es, die ihn reizt.

Um das ganze Interview zu hören bitte unseren Soundcloud-Player starten:

Ein Musikvideo ist ein audiovisuelles Medium, was konzeptionelles Tonmaterial mit Bildmaterial verbindet, um Musiker und dem Musikstück zur Bekanntheit zu verhelfen. Was aber genau schafft Mehrwert, den ein Werk durch die Öffentlichkeit erhält um sich dann erfolgreich zu nennen?

Veder: Du mußt zum Beispiel so abgefahrene One-Take-Geschichten machen wie OK-GO! Ein One-Way-Parkour, wie in „The One Moment“ aufbauen, wo du denkst hä, das kann doch eigentlich gar nicht sein, oder so eins in der Schwerelosigkeit, wie für „Upside down /Inside out„. Das abgefahrendste ist „Needing/Getting“, Das mit dem Sportwagen, mit dem sie durch eine wüstenähnliche Gegend fahren und mit der Karosse des Wagens, an dem verschiedene Fliegenklatschen hängen, ihren Original-Sound produzieren. Während des Vorbeifahrens! Wenn die nicht diese Videos hätten, wäre die Band nicht bekannt und gehypt worden, denke ich, ohne die Musik schlecht zu machen.

Veder: Es ist auch gut, wenn man irgendwo eine Kooperation hat um so etwas möglich zu machen oder in Musikblocks auftaucht, Tonspion oder laut.de. Natürlich ist auch wichtig heutzutage auf Spotify, iTunes und Youtube platziert zu sein, weil du dich als Künstler eben selber krass vermarkten kannst und mußt, wenn du erfolgreich sein willst. Das Label Chimperator war früher ganz klein und Cro-„Easy“ ging dann steil durch die Decke. Das ganze „Mixtape“ war ‚for free‘. Das konntest du einfach umsonst runter laden. Da gab es nicht mal ein Video dazu. Und erst dann, als die Musik verkauft wurde, ist auch das Video in den Charts auf Nummer Eins gegangen. Durch eine ansprechende Ästhetik, eine geile Idee, eine gute Vernetzung in den sozialen Medien, Streamingdienste, Playlists, Radio… Ich glaub übers Radio gehts auch noch. Da kann der Konsument Neues entdecken. Man schaut im Nachhinein dann die Videos, die visuelle Ebene der Bands an, wie bewegen die sich, was haben die für ’ne Attitude, wie sehen die so aus, wie ist so der Habitus, die Mimik, die Gestik. Das gibt nochmal eine zusätzliche Ebene, die Band zu fühlen und zu erfahren. Ich denke, dass ist ausschlaggebend für den Erfolg.

Mit der Musik von Rammstein kann ich gar nichts anfangen. Ich würde noch nicht mal auf ein Konzert gehen, ich würd auch den Ton ausmachen und nur das Video angucken.

Oder provoziert? So wie politische Songs von Childish Gabino – „This is America„. Der bekam sehr viel Aufmerksamkeit durch die Schlagkraft seiner Bilder, ohne Skrupel einen singenden Gospelchor nieder zu ballern. Muß sowas für den Erfolg sein? Und ebenso, zwar anders, aber ebenso „Abgrundtiefschlechtes“ Capital Bra – „Cherry Lady“ oder Robin Thicke – „Blurred Lines“. So etwas ist erfolgreich durch negative Punkte, oder?

Veder: Provozieren funktioniert doch immer. Ich erinnere mich noch an „Cop Killers“ – Ice T. Diese ganze Platte, die war so provokativ gegenüber den Polizisten in Amerika, von der schwarzen Community aus, um auf ein Problem aufmerksam zu machen. Ja, es muß krass sein! Nur mit „Halleluja“ kommst du nicht an Tisch der Polit-Elite. Bei „Cherry Lady“ provozierst du damit, dass du mit Modern Talking zusammen auf Instagram irgendwas klar machst. Jeder will vom Anderen profitieren. Man ist unter den erfolgreichen Leuten, tauscht was aus und auf einmal hast du diesen Song den jeder kennt, weil der Künstler eh schon bekannt ist. Wenn du einmal die Maschine angeworfen hast, dann kannst du auch bißchen das reinwerfen, was du willst und es wird gefressen. Es wird gar nicht mehr so kritisch beäugt. Und dieses „Blurred Lines“, der Text ist einfach krass sexistisch, dass es dann heißt „Hier, kennst du schon den..?“ Viele finden sowas halt auch cool. Die machen sich darüber keine Gedanken.

Veder: Wenn ich jetzt so an die erste Rammstein Single denk, „Du hast“, da dacht ich auch, ok, was ist das für ne Nummer?! Das spielt mit so ganz komischen Symbolen und Elementen, die man auf vielen Ebenene entschlüsseln muss, welche darauf abzielen zu provozieren. Jetzt das neue Ding, „Deutschland“ von der Regie-Legende Specter ist ein Video-Meilenstein, worauf ich wirklich wie zu MTV-Zeiten gewartet habe um es endlich zu sehen. Wenn Eric Remberg ein Video macht, weißt du, es wird krass und es steckt viel Geld drin! Der hat auch so Miss Platnum – 99 Probleme gemacht. Sieht immer ziemlich schick aus. Auch für Swiss und Die Andern hat der Videos gemacht, welche auch so geil provokativ sind und ich mega gut finde.

Die erste Single muß reinhauen, muß am Lautesten sein. Oder vielleicht auch die zweite Auskopplung. Aber es muß ‚boom‘ machen, richtig reinschlagen wie eine Granate.

Was könnte Deiner Meinung nach in Zukunft erfolgreich sein oder was glaubst du ist die visuelle Zukunft?

Veder: Ich finds immer komisch zu sagen alles wird 360°, alles wird so ‚augmented reality‘. Visuelle Ebenen werden sich immer irgendwie wiederholen und doch weiter entwickeln, wenn man sich zum Beispiel heutzutage die Rappvideos anguckt. Ufo361 zum Beispiel mischten die Videoästhetik von diesen VHS-Rekordern aus den 90ern und bauten es wieder ein. Was vor 25 Jahren in war kommt wieder. Aber man schneidet eben auf dem Handy und rendert keine 48h für drei Minuten Video. Heutzutage kannst du dich ganz einfach über die Adobe Cloud für ein paar Euro einmieten. Sogar ohne gecrackte Software kannst du das lernen und bist dann irgendwie 10-12 Jahre alt und weißt wie man mit Schrift umgeht, wie man krasse Effekte baut, wie man Figuren ausschneidet, wie man einen Greenscreen macht. Na klar, die Leute sind dann 15-16 Jahre alt und halt Pro’s. Wo ich denk, das werd ich in meinem Leben nie mehr lernen! Ich glaube diese Entwicklung wird noch viel stärker zunehmen. Da schlummert sehr viel Potential in den jungen Leuten…

Ufo361 feat. Gzuz – „FÜR DIE GANG“

Was ich mir auch noch gut vorstellen kann, für so eine Zukunftsmusik ist ‚artificial intelligence‘. Das gibt’s in der Musikproduktion mittlerweile ganz häufig. Das man Plugins hat, die sehr viel voraus berechnen und auf eine Art Datenbank zurückgreifen – Was muss ein Song haben, dass er ‚up to date‘ klingt?! Da gibt’s verschiedene Hersteller, die machen das jetzt schon ziemlich gut. Die Plugins regeln alles selbst. Oder so „googledream“-Looks – Montagebilder – aus einem Pool von Bildern künstlich Neues entstehen lassen. So CGI-mäßig, wie es Coldplay in „Adventure Of A Lifetime“ gemacht hat, mit so singenden Affen im Dschungel. Auf jeden Fall crazy abgefahrene Ästhetik wird uns erwarten, wo Stufen der Ästhetik erreicht werden, bei denen man nur staunen kann und denkt, ‚fuck‘, wo und wie ist das gemacht!

Vielen Dank!

Heute stehen Musikvideos jedem mit einem Internetanschluß pausenlos, unendlich wiederholbar, überall auf der Welt zur Verfügung, sofern der Staat den Medienplattformen keine Internetzensur , wie in weiten Teilen Asiens auferlegt. Ein erfolgreiches Musikvideo wird sehr oft angeschaut, oft geklickt, wird gern geteilt und hat mehrdeutige Inhalte, die gesellschaftliche und politische Bühnen betreten um dort diskutiert zu werden. Provoziert und hat Schlagkraft! Je breiter die Splitter fliegen, je vielfältiger die Deutungsmöglichkeit, desto länger, lauter und höher frequentiert ist der Diskurs über den Künstler. Jeder Produzent weiß um visuelle, strategische Elemente, die manchmal einfach scheinen aber von einer breiten Öffentlichkeit entschlüsselt werden können. Produzenten und Künstler allgemein sollten die maßgebliche Wirksamkeit dieser Diskurse begreifen, welche das Potenzial für ein Händereichen vollkommen gegensätzlicher Denkströmungen in sich trägt. Es wäre ein wünschenswertes Bild einer Gesellschaft von morgen. //

Die besten Musikvideo-Analysen auf Youtube:

Datum: 21.01.2020


Die Periode – Ein Tabuthema in Deutschland

Female Empowerment kommt in Bewegung, der Film „Period. End of Sentence“ gewinnt einen Oscar, der Deutsche Bundestag entscheidet sich zur Steuersenkung auf Periodenprodukte – all dies zeigt: Die Periode kommt in der Öffentlichkeit immer mehr als ein ausgesprochenes Thema an. Weltweit beschäftigen sich immer mehr Frauen!?! mit dem Zyklus Menstruierender und trotzdem flüstern Mädchen auf Toiletten, Tampons werden unterm Bürotisch „gedealt“ und Schmerzen verschwiegen. Das Verhalten gegenüber der Menstruation ist in Deutschland noch immer ein von geröteten Wangen und peinlicher Stille geprägtes. Aber wovor haben wir denn eigentlich „Angst“? Passen Aktivismus, Wirtschaft und Periode zusammen? Und was können wir tun, um die Periode aus versteckten Badezimmern in den Alltag zu holen?

Artikel von Benedict Gehlken und Nora Therese Witt


Therese’s einleitende (weibliche) Sicht auf das Thema

Rote Woche, Erdbeerwoche, die rote Karte ziehen, Bloody Times, auf der roten Welle surfen, Ketchup-Woche, Rote Zora, Kirschenzeit, Schmollwoche, Los Wochos, Ferrari in der Tiefgarage, Maler im Keller, Besuch von der roten Lola, Besuch von Tante Rosarot aus Unterleibzig, Rote Armee, Umstöpseln, Besuch vom roten Baron, Riding the cotton pony, Vampirlutscher, Wein im Keller, Urlaub am roten Meer, Red River, Besuch aus Moskau, Preiselbeerwoche, Erbsünde, Blowjob Week…

Die Euphemismen häufen sich, niemand traut sich das „Problem!?!“ beim Namen zu nennen – Regelblutung, Monatsblutung, die Tage, Regel, Menstruation oder wie wäre es denn schlichtweg mit Periode? 

Versteckte Tampons, heimlich ausgetauschte Binden, plötzliches Unwohlsein, aber natürlich nur wegen des zu scharfen Essens – wir verstecken, verheimlichen und finden Ausreden, alles nur, um auf keinen Fall jemanden und ganz besonders keinen männlichen Mitmenschen, merken zu lassen, dass wir gerade menstruieren. 

„Es ist unsere größte Angst, dass andere Augenzeuge davon werden, dass wir unsere Tage haben. Dabei ist es eigentlich logisch, jede Frau ist ein Mal im Monat an der Reihe!“

Das Tage Buch – Heike Kleen

Aber vielleicht ist die Angst auch natürlich, denn was wir nicht kennen, flößt uns Angst ein. Aber warum wissen nicht mal wir als Frauen selbst genau Bescheid, was in unserem Körper während unseres Zyklus passiert? 

Klar ist, uns fallen weder Erdbeeren, noch Preiselbeeren aus der Unterhose, vom Platz gestellt werden wir auch nicht eine Woche, keiner schmollt 24/7 und nach Besuch von welcher Tante auch immer ist vielen während ihrer Periode ebenfalls nicht.

„Unsere Gesellschaft braucht einen anderen Umgang mit dem Thema, es muss raus aus der geheimnisvollen Gruselecke und im täglichen Leben ankommen. Als völlig normales Ereignis. Aber wie soll das gehen?“

Das Tage Buch – Heike Kleen

Verglichen mit anderen Ländern, geht es uns Frauen in Deutschland während der „besagten Tage“ natürlich noch gut. Wir dürfen unser Leben „normal“ weiterleben, aber eben auch nur das, nicht mehr und nicht weniger. Keine Fehltage bei der Arbeit, weil sich der Unterleib anfühlt, als würde jemand von innen Bilder in die Eierstöcke nageln, keine kostenlosen Tampons neben dem Klopapierspender, keine Blutflecken auf der Hose, wenn uns die Menstruation doch mal überraschend ereilt.

Als hätten wir uns ausgesucht, einmal im Monat diese kleine Hölle auf Erden zu durchleben und würden dafür gestraft mit der Verpflichtung, darüber zu schweigen. Fragen wir mal den deutschen Staat: Luxus nannte sich das bislang, zumindest, wenn es um das besteuern der sogenannten Hygieneartikel geht. Es wäre ein großer Schritt, wenn sich dies nun ändern würde, obwohl es eigentlich gar nichts kosten dürfte, sich während seiner Tage mit Periodenprodukten auszustatten.

Veränderung ist also schon lange an der Zeit und es machen sich immer mehr Menschen Gedanken um das Thema Periode. Immerhin betrifft es auch in Deutschland ca. 25% der Bevölkerung. Und wenn wir es genau nehmen und uns auf das Ziel einer jeden Menstruation konzentrieren, „aufzuräumen“ für eine potentielle Schwangerschaft, betrifft es die anderen 75% der Bevölkerung gleichermaßen.

Was unterscheidet dann Menstruationsblut von anderem Blut?

Was lässt uns beschämt zu Boden blicken, wenn das Thema auf den Tisch kommt?

Was macht die Periode so „verboten“?


Und was passiert da jetzt eigentlich?

Nicht nur der nicht menstruierende Teil der Menschheit weiß oft kaum über das „Phänomen“ PERIODE Bescheid, auch diejenigen, die es direkt betrifft, sind oft nicht ausreichend informiert über die Wunder, die ihr Körper da jeden Monat vollbringen muss.

Du hast auch keinen Plan? „Das Tage Buch“ von Heike Kleen ist eine bloody good address, um sich mal wirklich mit sich und seinem Zyklus und übrigens auch dem des Mannes zu befassen.

Für die Kurzvariante – ein schneller Klick in diese Artikel bringt Licht ins Rote…


Das unwissende Geschlecht

Benedict’s (männliche) Sicht auf das Thema

Ja, ich bin ein Cis-Mann. Ja, ich habe jeden Tag Kontakt zu Personen, die einmal im Monat ihre Periode haben oder hatten. Und Ja, ich gebe zu, ich weiß viel zu wenig über das Thema Menstruation, so wie viele Männer. Doch woran liegt das?

Man wird als Junge geboren, bekommt meist eine sehr geschlechterspezifische Erziehung und wenn man dann die Pubertät erreicht, dann hat man seine eigenen Probleme, die den Körper betreffen. PMS, Regelblutung, Tampons, Binden, Menstruationscups, all diese Dinge bleiben für Männer dabei häufig im Verborgenen. Irgendwann in der 6. Klasse hat man dann mal Sexualkundeunterricht, da wird erklärt, was sich jeweils in uns und mit uns verändert. Dass vorpubertäre Schulkinder in dieser Zeit alles, was mit dem Themenblock: SEX, VAGINA, PENIS, MENSTRUATION, EJAKULATION zu tun hat, „peinlich“ finden, ist für die Aufklärung nicht wirklich hilfreich. Ein paar Jahre später, wenn man etwas reifer ist und den genannten Thematiken etwas offener gegenüberstehen sollte, da bekommt man nur noch die Erläuterung des Zitronensäurezyklus oder der Übertragung von Informationen im Hirn.

Nun ist der Zug meist schon abgefahren, Menstruation spielt jetzt erst mal keine Rolle mehr für einen Mann und falls doch, dann versuchen viele dem Thema aus dem Weg zu gehen. Wenn die Freundin mal wieder „Besuch von Emily Erdbeer“ hat, dann meidet man sie einfach für ein paar Tage, und wenn die eigene Tochter erzählt, dass sie „Untenrum“ blutet, dann gibt es sofort eine Überweisung zum Facharzt (aka Mutter). Es wird uns täglich vorgelebt, im Film, im Fernsehen, in der echten Welt. Daran muss sich nun endlich etwas ändern, damit solche Szenen der Vergangenheit angehören:


Luxusbluten nennt sich das…

Wenn man in Deutschland etwas kaufen möchte, dann muss man nicht nur die jeweiligen Produkte oder Dienstleistungen bezahlen, nein, man muss auch noch die Mehrwertsteuer drauflegen. Runtergebrochen kann man sagen, dass es zwei Steuersätze gibt: einen generellen von 19% und einen ermäßigten von 7%. Der ermäßigte Steuersatz beinhaltet „alles“, was der Mensch zum Leben braucht, also einige Nahrungsmittel, Kunst- und Kulturgüter und „Dinge“ wie Hausziegen, Brennholz oder antike Briefmarken. Der generelle Steuersatz wird nun für alles andere erhoben, was wir „eigentlich“ nicht bräuchten, Dinge, die uns das Leben nur etwas schöner machen sollen. Kurzgesagt: Luxus. Das komische ist nur, dass zu diesem Luxus auch Produkte gehören, die Millionen von Menschen täglich benötigen, so zum Beispiel Periodenprodukte, also Tampons, Binden, Period Pantys und Menstruationscups. Ist das fair?
Für viele Menschen, Initiativen und sogar Firmen jedenfalls nicht. Einige von ihnen haben Petitionen gestartet, die fordern, dass für Periodenprodukte der ermäßigte Steuersatz gelten sollte, bzw. dass man eine Steuer auf Periodenprodukte ganz abschaffen müsste.
Momentan sieht es so aus, als ob sich wirklich etwas verändern wird. Nachdem Ende Mai eine von 81.000 Menschen unterschrieben Petition eingereicht wurde, gab Finanzminister Olaf Scholz nun bekannt, dass ab dem 01.01.2020 „nur“ noch ein ermäßigter Steuersatz auf Menstruationsartikel gelten soll. Ob dies wirklich passieren wird, bleibt abzuwarten…


einhorn

Nachhaltige Periodenprodukte mit einer Message

Bekannt geworden durch vegane Kondome, gehört das Startup „Einhorn“ mittlerweile nun auch zu den interessantesten Produzenten von nachhaltigen Menstruationsartikeln. Bunte und schrille Verpackungen, eine positive Message und der Anspruch, das Thema Periode zu enttabuisieren und in die Mitte der Gesellschaft zu bringen. Gemeinsam mit „Neon“ hat Einhorn deshalb eine Petition gestartet, um die Luxussteuer für Menstruationsartikel zu senken. Um herauszufinden, wie man die Periode sonst noch von ihrem Stigma befreien und inwiefern ein Kreuzberger Startup dabei helfen kann, trafen wir uns zum Gespräch mit Elena von Einhorn.

Berlin-Kreuzberg: Görlitzer Bahnhof. Irgendwo hier versucht man, die Periode zu endtabuisieren. Im Treppenhaus eines Altbauinnenhofkomplexes werden wir durch ein Schild mit der Aufschrift „Höhle der Einhörner“ begrüßt. Wir sind am richtigen Ort. Wir treffen Elena, sie ist für das Thema Menstruation zuständig. Das bedeutet Öffentlichkeitsarbeit, Petitionen, Kooperation mit anderen MitstreiterInnen und Social Media. Über Social Media bekam Elena übrigens ihren Job – sie schrieb Einhorn via Instagram an, danach machte sie ein Praktikum bei dem Startup, nun arbeitet sie hier.

…ein Hauch von „Hier werden die Dinge anders gemacht“

Das Büro von Einhorn sieht genau so aus, wie man sich eine Startup-Zentrale in Kreuzberg vorstellt. Es gibt einen Greifarmautomaten, der mit Kondomen gefüllt ist, Wände, die mit Konzeptzeichnungen vollgeklebt sind und ein Hauch von „Hier werden die Dinge anders gemacht“. Das die Dinge hier wirklich anders gemacht werden, bestätigt uns Elena. Sie sagt, dass Einhorn, in dem, was die Firma macht, zum aktuellen Zeitpunkt konkurrenzlos ist. Es geht nicht nur darum, vegane Kondome und Fairtrade Menstruationsartikel zu verkaufen, sondern auch darum, einen Einfluss auf den öffentlichen Diskurs zu haben. Durch Blogbeiträge, Social Media Content und Petitionen wollen die „Einhörner“ das Thema Menstruation dorthin bringen, wo es hingehört: In die Mitte der Gesellschaft. Der beste Weg, dies zu schaffen, sagt Elena, ist darüber zu sprechen. Die von Einhorn angestoßene Petition zum Beispiel, machte Schlagzeilen. In über 260 Zeitungsartikeln wurde das Startup und ihr Vorhaben erwähnt. Das Positive daran ist für Elena, dass selbst in „kleinen“ Regionalmedien über Menstruation geschrieben wurde, sodass nicht nur Berlin und andere Großstädte Teil dieser Aufklärungswelle bleiben.

https://www.instagram.com/p/B1wWy70H7nq/

Elena sieht optimistisch in die Zukunft. Sie sagt, dass momentan das richtige politische Klima herrscht, um etwas zu verändern. Und da nicht nur Einhorn, sondern auch noch andere Initiativen gemeinsam für das Thema kämpfen, werden Menstruationsartikel bald nicht mehr als „Luxus“ eingestuft. Der dazugehörige Steuersatz wird sich ändern. Doch bei der Petition bleibt es nicht. Einhorn ist beispielsweise auch noch an einem Projekt beteiligt, welches den Schulunterricht revolutionieren soll, damit der Zitronensäurezyklus nicht der einzige Zyklus bleibt, mit welchem man im Biologieunterricht konfrontiert wird. 

Ihre Produkte sind bunt, grell, lustig und vor allem eins: einladend.

Auch über ihre Produkte versucht Einhorn die Periode von ihrem Stigma zu befreien. Sucht man in den gängigen Drogeriemärkten nach Periodenprodukten, so muss man nämlich feststellen, dass die alteingesessenen Firmen nicht gerade dazu beitragen das „Wunderwerk“ Periode zu enttabuisieren. Die Verpackungen von Tampons, Binden und Menstruationscups wirken häufig monoton und klinisch, so als wollte man verbergen, was man da aufs Kassenband legt. Elena sagt uns, dass der Einkauf solcher Produkte nichts peinliches oder zu verheimlichendes ist. Deswegen hat sich das Team von Einhorn dazu entschieden, etwas anders zu machen. Ihre Produkte sind bunt, grell, lustig und vor allem eins: einladend. Die Designs von Einhorn sehen nicht nach Beilage eines „Erste Hilfe Koffers“ aus, sondern eher wie die Verpackung einer Actionfigur aus den 80s.

Dass diese Herangehensweise Früchte trägt, bestätigt uns Elena. Die Einhörner bekommen nämlich regelmäßig Zuschriften von Kundinnen und Kunden, die durch den bunten und schrillen Stil einen ganz anderen Zugang zu ihrer Periode gefunden haben. Denn wenn die Produkte von Einhorn eines aussagen, dann ist es dies: „Ich bin ein Mensch. Ich menstruiere. Und das ist gut so!“


ooshi

Die Periodenunterwäsche mit Female Empowerment

Auf der Suche nach etwas Sinnstiftendem, das ihnen trotz ihres Familienalltags alle Möglichkeiten gibt sich zu entfalten, haben es ooshi-Gründerinnen Dr. Kati Ernst und Kristine Zeller geschafft, die Periodenunterwäsche nach Deutschland zu holen.
„Female Empowerment“, der weibliche Zyklus, über Tabus sprechen all das haben sie sich zur Passion gemacht. Im Namen der Bundesregierung sind sie 2019 als Kultur- und Kreativpiloten in Deutschland ausgezeichnet worden.
Wie es dazu kam, dass die beiden inzwischen auf über 40.000 verkaufte ooshis blicken können und Karriere und Familie vereint haben, hat mir Kristine im Interview erzählt. 

Berlin-Prenzlauer Berg: Hinter einer Schaufensterscheibe sehe ich einen großen Schreibtisch, mit vielen Arbeitsplätzen, eine kleine Sitzecke und natürlich die ooshi Periodenunterwäsche auf dem Regal. Mit offenen Armen begrüßt mich Kristine in ooshis kleinem Büro. Nach einem kurzen Besuch beim nächsten Falafelstand und einer schnellen Instagramstory (aufregend für mich, Alltag für Kristine), machen wir es uns in den Sesseln gemütlich. 

Etwas, was die Welt ein bisschen besser macht und sie ihren Job mit der Familie vereinen lässt, haben Kati und Kristine gesucht. Bei einem Mädelsdinner erzählte eine Freundin, natürlich hinter vorgehaltener Hand, von Periodenunterwäsche aus Amerika.
Die beiden machten sich auf die Suche und waren beeindruckt von der starken emotionalen Reaktion vieler Nutzerinnen der sogenannten „period panties“. Gleichzeitig mussten sie aber auch feststellen, was für ein großes Tabu um das Thema in Deutschland herrscht. Die beiden ooshi-Gründerinnen sind seit über 10 Jahren Freundinnen und überlegten schon lange gemeinsam, wie sich ihre Jobs besser mit ihrem Familienleben verbinden lassen, denn Führungsposition und Familie ist als Frau in vielen Firmen immer noch schwer zusammen zu denken. Im September 2018 starteten sie dann ihr eigenes Ding und im Rahmen einer sehr erfolgreichen Kickstarter-Kampagne begann der Vorverkauf der ooshi Period Pantys. 

„Speak up

 „Female Empowerment“ haben die beiden sich zum Vorsatz gemacht. Der Gedanke, den Nachhaltigkeitscharakter der Periodenunterwäsche so perfekt wie möglich auszubauen, kam mehr nebenbei hinzu.
„Female Empowerment“ hat natürlich nicht ausschließlich mit der Periode zu tun, „Speak Up“ ist das Motto, sei nicht zufrieden mit den Verhältnissen, ob es dabei um deine Rolle in der Gesellschaft, in Firmen, Schönheitsideale oder halt die Periode geht, ist egal.

Viele Frauen trauen sich nicht, über Probleme mit ihrer Periode zu sprechen. Kundenanfragen, ob auf dem Paket zu erkennen sei, was sich darin befindet oder ob bei der Abbuchung des Geldes ein Name erscheint, weil beispielsweise der Ehemann nichts davon erfahren darf, sind leider keine Seltenheit, berichtet mir Kristine.
Auch wenn das Thema aktuell immer öfter abgeschlossene Badezimmertüren verlässt, müssen Frauen und junge Mädchen dort abgeholt werden, wo sie sich gerade gedanklich mit dem Thema befinden, das ist ooshis erklärtes Ziel. Frauen sollen sich trauen, für das einzustehen, was sie beschäftigt.
Mit ihrem Instagramchannel wollen die beiden nach dem Motto: „Wenn die zwei das hinkriegen, schaffen wir das auch!“ andere Frauen inspirieren. Die Luxussteuer-Petition unterstützten sie hier ebenfalls. Auch wenn diese ihr Produkt zumindest vorläufig wahrscheinlich nicht betreffen wird, wollen sie natürlich trotzdem zusammen mit anderen Engagierten die Kräfte bündeln. 

https://www.instagram.com/p/B2ChNhXAb6f/

„Warum findest du es komisch darüber zu sprechen?

Jeder Mensch, jede Situation erfordert eine andere Herangehensweise, viele Menschen reagieren anders, als wir es erwarten, da ist es schwer den richtigen Ansatz zu finden, besonders, wenn Menschen das Thema komplett tabuisieren. So behutsam wie möglich, meint Kristine, Fragen wie: „Warum findest du es komisch darüber zu sprechen?“ können helfen.
Mit ihren Kindern reden die beiden inzwischen offen über alles und auch andere, wie zum Beispiel ihre Instagram-Follower, besonders auch Mütter von Jungen, ermutigen sie offen mit ihren Kindern zu sprechen. Fazit ist, besonders spannend ist das monatliche Cup Auswaschen irgendwann nicht mehr, sondern einfach normal und so soll es sein. Für Kristines achtjährige Tochter ist es so normal, darüber zu reden, dass sie unaufgefordert gerne davon erzählt, was ihre Mama beruflich macht. Das sie dadurch auch potentielle Kunden anwirbt zeigte sich, als Kristine im Hotel am Frühstückstisch von einer begeisterten Frau angesprochen wurde, die mehr von ooshi erfahren wollte, nachdem Kristines Tochter sie am Buffet angesprochen hatte.
Mit potentiellen Investoren (stellt euch sechs mittelalterliche, streng dreinblickende Männer in Anzügen vor) spricht man am besten von „Female Healthproducts“ und dem großen Markt, welcher in Deutschland für diese Produkte herrscht, doch dann sind auch diese bereit dazu offen, über das Thema zu reden. Kristines Schluss ist, dass man lernt, mit verschiedenen Menschen und Situationen umzugehen und ein besseres Gefühl dafür bekommt, wie man die Menschen am besten erreicht.

„In der Berlin-Bubble denkt man manchmal, so schlimm ist es doch gar nicht…“

Was für ein riesiges Tabu noch immer um das Thema herrscht, vergisst man leicht, wenn man sich in seiner „Bubble“ von Gleichgesinnten bewegt. Als Reaktion auf einen Beitrag zu ooshi im Rahmen der Abendschau im rbb erlebten Kristine und Kati den Zusammenstoß dieser verschiedenen Meinungen live auf Facebook. Von Kommentaren, was für eine Zumutung es wäre sich Periodenunterwäsche beim Abendessen anschauen zu müssen, über die Ekelhaftigkeit bis hin zu emotionalen Gegenreaktionen, die sich für die Natürlichkeit der Sache einsetzten, war hier alles vertreten. Ein regelrechter Kampf herrschte unter dem Ausschnitt aus dem Fernsehbeitrag. Die beiden lasen stundenlang mit, konnten sich aber komplett der Diskussion entziehen. Das machte es trotzdem zu einer positiven Erfahrung, denn die Stimmen der Verteidiger waren auch ohne Eingreifen der beiden laut genug.
Ein großer Teil des Problems entsteht durch die Unwissenheit vieler, welche für Verschlossenheit gegenüber dem Thema sorgt. Besonders in der Schule muss die Aufklärung und damit auch das Thema Periode neu gedacht werden. Die Themen brauchen einen neuen Stellenwert in der Bildung und es muss vor allem offener damit umgegangen werden, findet Kristine.
Redet darüber, mit engen Vertrauten, mit entfernten Bekannten, immer dann, wenn es sich ergibt. Seid nicht leise, wenn es euch beschäftigt und seid euch bewusst, dass ihr ein Recht auf eure Stimme habt, dass wollen Kristine und Kati vermitteln. Die Aufmerksamkeit, nicht zuletzt auch aus der „Höhle der Löwen„, welche das von ihnen geschaffene Produkt und die dahinter steckende Idee aktuell bekommt, zeigt, dass es auf jeden Fall möglich ist, das Thema in die Öffentlichkeit zu bringen und wir uns alle die beiden als Vorbild nehmen können.


Menstruierende bekommen ihre Periode zwischen 9 und 16 Jahren. Jede menstruierende Person hat durchschnittlich 450 Zyklen in ihrem Leben und blutet mehr als 3.500 Tage. Das können bis zu zehn Jahre des Lebens sein, in welchen Menstruierende momentan von ihrer Periode eingeschränkt werden. Viele schweigen über Schmerzen und Probleme, denn es ist immer noch ein viel größeres Tabu, als wir oft glauben. Und dies betrifft monatlich ein Viertel der Weltbevölkerung.
Die Zahlen schwanken sehr stark, doch Studien setzen auf ca. 10.000 Euro bis hinzu ca. 16.000 Euro, die Menstruierende im Laufe ihres Lebens für Produkte die sie für ihre Periode brauchen, ausgeben müssen. 

„Why were we raised to speak in low tones about periods?

To be filled with shame if our menstrual blood happened to stain our skirt?

Periods are nothing to be ashamed of. Periods are normal and natural, and the human species would not be here if periods did not exist.

I remember a man who said a period was like shit. Well, sacred shit, I told him, because you wouldn’t be here if periods didn’t happen.“

„Dear Ijeawele, or A Feminist Manifesto in Fifteen Suggestions“

Chimamanda Ngozi Adichie

Macht den Mund auf, reißt die Badezimmertüren auf, verteilt Binden auf öffentlichen Toiletten oder redet auf jeden Fall mit eurer besten Freundin, über eure roten Erlebnisse, auch das kann schon ein großer Schritt sein.
Nicht jeder von uns kann und muss für alles demonstrieren oder seine Meinung zum Beispiel durch eine durchgeblutete weiße Hose kundtun. Miteinander reden können wir alle und das ist der beste Schritt, um mit Tabus zu brechen. Es geht nicht nur um Menstruierenden, sondern um jeden. Nur wenn wir alle offen mit dem Thema umgehen, können wir das Tabu abbauen und gegen herrschende Ungerechtigkeiten vorgehen. 

Macht eure eigenen Regeln! Deine Regel – Deine Regeln


… jeder Blutstropfen zählt


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Alle unsere Fotos zu den Firmen sind zu finden auf den jeweiligen Presseseiten – einhorn und ooshi. Alle sonstigen Bilder und Videos gemacht von Therese.

K.I.Z.: Eine Zeittafel des Missverständnisses

Autoren: Sophie Hähnel & Walter Schilling

Musik bringt Menschen zusammen. Dies sollte sie auch im vergangen Jahr beim „Wir sind mehr“- Konzert sein. Unter dem Motto „gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Gewalt und Hass“ versammelten sich über 50.000 Menschen in Chemnitz, um mit Musik zu demonstrieren. In den Wochen vor dem Konzert kam es immer wieder zu Ausschreitungen, Protesten und Demonstrationen, Gewalt und Auseinandersetzungen mit Politikern und Journalisten. Hintergrund für diese Entwicklungen war der Mord an einem 35-jährigen Chemnitzers.
Überschattet wurde das Konzert für Positivität und Frieden von Vorwürfen diverser Medien, insbesondere der BILD-Zeitung, gegenüber den Berliner Rappern von „K.I.Z.“.
Die zweifelsohne provokante, aber eben vor allem sarkastisch und mit viel Humor zu verstehende Rapper-Formation wurde, zum wiederholten Mal, Opfer von Journalisten, die es eben nicht schaffen zwischen den Zeilen zu lesen, sondern einzelne und teilweise sogar unvollständige Zeilen aus Texten herausziehen und frei interpretieren, eben so, dass es in ihre Kritik passt. Was nicht passt, wird
passend gemacht!
Schon in der Vergangenheit standen die Rapper, Maxim (34),Tarek (32) und Nico (35), bereits im Mittelpunkt ähnlicher Diskussionen und immer wieder sind es die selben, relativ alten Textzeilen, die entweder aus ihrem Kontext gerissen werden oder falsch bzw. überinterpretiert werden.

 

Foto: Florian Rippert, Quelle: Flickr, cc by 2.0

 

 



 

Die BILD nahm für ihren Artikel einzelne Verse von K.I.Z’ Song Affe und ein Pferd und schrieb über diese Zeilen, ohne auf den Zusammenhang einzugehen. Es liegt in der Natur der Sache, dass solch eine Interpretation von Lyrik immer schief gehen muss. Denn schon der Literaturwissenschaftler Jürgen Link schrieb über die Überkonstruktion solcher Textarten. Dort heißt es, dass sie endlos tief analysierbar sind. Schließlich ist in der Lyrik mehr zu erkennen, als bloß das geschriebene Wort. Viele verbinden genau diese Tatsache mit Lyrik, wenn sie über Gefühle sprechen, die solche Textsorten bei ihnen auslösen. Man könnte auch von einem Bild in einem Bild in einem Bild usw. sprechen. Oder um es in den Worten von Jürgen Link zu sagen: Ein lyrischer Text hat die Tendenz, die vertikale Vielfalt der Ebenen ständig zu vermehren.

Der Journalist Peter Tiede verschließt sich dem aber völlig und veröffentlicht bei der BILD eine Analyse des K.I.Z-Konzerts ohne jeglichen Kontext. Dabei ist dieser Zusammenhang in jeder Sprechersituation wichtig. Schließlich hat ein „Ja“ auf die Frage des Dönerverkäufers: „Mit scharf?“, eine vollkommen andere Bedeutung als das Ja-Wort während einer Hochzeit. So ist die Unterüberschrift des Textes von Peter Tiede „Ich ramm die Messerklinge in die Journalisten-Fresse“ und reisst das K.I.Z.-Zitat aus dem Zusammenhang.

In der besagten Strophe personifiziert der Erzähler jedoch die Asozialität schlecht hin. Er zwingt seine Mitschüler dazu, seine Hausaufgaben für ihn zu machen, gibt seinen Gästen Urin zu trinken, umgibt sich mit Huren und schlägt seine Mitmenschen so sehr, dass sie querschnittsgelähmt werden. Das ist aber noch nicht alles, denn er steckt Leuten gerne Böller in die Kapuze und verdient seinen Lebensunterhalt damit, Drogen zu verkaufen. Und zu guter Letzt rammt er Journalisten auch noch eine Messerklinge in die Fresse. Dem Erzähler ist aber die Asozialität bewusst, denn in der Strophe heißt es auch: „Für meine Taten werd ich wiedergebor’n als Regenwurm“. Die Strophe selbst enthält eigentlich viel zu viel Impact, um sie in lediglich 300 Wörtern zu analysieren, wie es Peter Tiede für die BILD tat.

Doch in jener geringen Wortzahl wird sogar noch die zweite Strophe besprochen und auf den Vers mit Eva Hermann eingegangen: „Eva Hermann sieht mich und denkt sich: Was`n Deutscher! Und ich gebe ihr von hinten wie ein Staffelläufer“. Bevor wir aber noch auf den besagten Vers eingehen, muss an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass es doch die BILD war, die 2007 gegen die ehemalige Nachrichtensprecherin mobil machte und schrieb: „Eva Herman lobt Hitlers Familienpolitik“.

Frau Hermann empfiehlt Bücher mit rechter Ideologie (Finis Germania) und behauptet in ihrem eigenen Buch Wahrheit und ihr Preis, dass Gender-Mainstreaming das größte Umerziehungsprogramm in der Geschichte sei. Bei Johannes B. Kerner sagte sie im Interview: „Man kann [in Deutschland] nicht über den Verlauf [unserer] Geschichte sprechen, ohne in Gefahr zu geraten.“ In ihrem eigenen Blog weißt sie sogar auf Chemtrails hin.

Eva Hermann ist also zumindest eine streitbare Person. Warum BILD mehr als zehn Jahre nach ihren eigenen Angriffen auf die Buchautorin diese nun in Schutz nimmt, wird anhand des Artikels nicht ganz klar.

Warum aber Eva Hermann in dem Vers von K.I.Z. erwähnt wird, ist dagegen schon klarer. Denn dort geht es um die Doppelmoral gegenüber der weiblichen Sexualität: „Ist eine Frau nicht nackt, dann beschmeiß ich sie mit Scheinen. Macht sie sich dann nackt, dann beschmeiß` ich sie mit Steine.“ Eva Hermann dagegen kritisiert regelmäßig die weibliche Emanzipation.

Der Artikel von Peter Tiede ist ein Musterbeispiel für zusammenhangslose Aussagen und eine klassische Fehlinterpretation. Sie bietet sehr viel Hetze und dagegen sehr wenig konstruktive Kritik oder gar eine Lösung an. 

 

 



 



 

Wie waren aber die Reaktionen auf den BILD-Artikel? K.I.Z. selbst lichtete sich wenige Tage nach dem Konzert auf dem Oktoberfest mit einem Lebkuchen ab. In jener Leckerei waren folgende Worte zu lesen: „Ich ramm die Messerklinge in die Journalistenfresse“. Die Band reagierte also geschlossen auf ihre ganz spezielle Art und Weise. Die Presse dagegen war sehr geteilt. Die FAZ zum Beispiel schrieb, dass man gegen jede Form von Hass Stellung beziehen müsse und suggerierte wenig Toleranz gegenüber dem K.I.Z.-Vers. Einen sehr interessanten Beitrag konnte dagegen die Neue Westfälische präsentieren und schrieb: „Natürlich sind Zeilen wie „…trete deiner Frau in den Bauch, fresse die Fehlgeburt“ krass und für die meisten schwer zu ertragen. Niemand muss sich das anhören. Trotzdem sollte ein Song als Gesamtwerk betrachtet und nicht einzelne Zeilen aus dem Zusammenhang gerissen werden.“

HipHop.de kritisierte dagegen, dass die BILD mit ihrem Artikel den Rechten in die Karten spielen würden: „Damit bemüht sie genau die Strategie, die rechte Trolle seit Tagen nutzen. Dass die Hälfte der gesammelten Spenden an die Familie des Opfers ging, es zu Beginn eine Schweigeminute gab und die Hinterbliebenen die Veranstaltung begrüßten, wurde so oft betont, dass man es schon gezielt ignoriert haben muss, um es noch immer nicht zu wissen. Wir hoffen, dass sich (Boulevard-)Medien sowie Politikerinnen und Politiker bewusst werden, wen sie mit solchen Statements stärken.“ Die junge Freiheit ging in ihrer Kritik wenig auf K.I.Z. ein, sondern viel mehr auf die Inszenierung: „Propagandatechnisch war die große Inszenierung der „Menschlichkeit“ ein voller Erfolg. #Wirsindmehr hat den Toten von Chemnitz in den Hintergrund treten lassen. Genau wie all die anderen Opfer von Migrantengewalt in den letzten Jahren. Die für die herrschende Klasse bedrohlich angewachsene Gruppe der Asylkritiker ist erst einmal wieder zurückgestutzt worden. #Wirsindmehr war die Idealdosis „Opium fürs Volk“ und als großes Ablenkungsmanöver der perfekte Ersatz für die dem Establishment viel zu früh zu Ende gegangene Fußball-WM-Teilnahme der Deutschen.“ 

 

Wie waren die Reaktionen dazu auf Twitter?

 

 

 

Titelbild: Sophie Hähnel

Stand: 07.03.2019 | Von: Hanna van Mark, Marica Gehlfuß, Olivia Lehmann

 

#wegmit219a #keinekompromisse
Instagram gehört vor Allem seit Anfang 2018 zu einem der Schauplätze, auf dem Menschen begonnen haben über das Thema Abtreibung zu diskutieren und einen klaren Standpunkt zu beziehen. Pro Choice, eine Bewegung, die sich für die Selbstbestimmungsrechte von Frauen einsetzt, startete letztes Jahr eine Fotoaktion, bei der der Mund mittels zweier Klebebandstreifen versiegelt wurde. Eine starke Geste, die für Aufsehen sorgte und nun wieder häufig gerepostet wird. Auf den Klebebändern befindet sich mitunter der Schriftzug „Weg mit §219a“. Die Forderung nach einer Gesetzesänderung wird spürbar lauter. Doch wie sieht die gegenwärtige Rechtslage in Deutschland aus und welche Fronten treffen bei diesem Konflikt aufeinander?

 

womanofheartandmind

„Statt Paragraph 219a zu streichen, der das Informationsrecht von Frauen negiert, indem er „Werbung“ für Abtreibung unter Strafe stellt, als ginge es darum, überall bunte Plakate aufzuhängen, auf denen ach so schöne Bilder der Prozedur zu sehen sind, die dazu führen, dass auch jede nicht-schwangere Frau Lust bekommt auch mal so richtig abzutreiben, (…) bleibt letztlich alles wie es ist.“
Datum: 13.12.2018

 

sophiahembeck

„Für Frauen die selbst bestimmen dürfen, ob sie einen Schwangerschaftsabbruch durchführen wollen und denen Informationen nicht vorenthalten werden um dies tun zu können. Es wird Zeit.“
Datum: 21.02.2018

 

 

gehraven

„(…) für mehr sexuelle selbstbestimmung – informationen zum schwangerschaftsabbruch müssen entkriminalisiert werden! (…)“
Datum: 15.02.2018

 

 

Die Gynäkologin Kristina Hänel wurde im November 2017 aufgrund des §219a wegen Informationsfreigabe bezüglich Schwangerschaftsabbrüchen auf ihrer Webseite zu einer Strafe von 6.000 € verurteilt.

Auch wenn es im Grundgesetz verankert ist, dass „jede Bundesbürgerin und jeder Bundesbürger […] das Recht auf Information [hat].“, gibt es paradoxerweise auch den §219a, der den Ärzt*innen verbietet, für Abtreibung Werbung zu machen. Werbung bedeutet in diesem Fall, dass Arztpraxen auf öffentlich zugänglichen Internetseiten deutlich machen, dass sie Schwangerschaftsabbrüche durchführen. So stand auf der Website von Kristina Hänel ausschließlich, dass Schwangerschaftsabbrüche zum Leistungsspektrum der Praxis zählen. Nur auf Anfrage bekam man eine Broschüre, die über die gesetzlichen Regelungen über einen Schwangerschaftsabbruch informierten, den Unterschied zwischen medikamentöser und chirurgischer Behandlung erklärten, sowie Nebenwirkungen nannten.

Kristina Hänel sammelte mehr als 150.000 Unterschriften für die Abschaffung des Paragraphen und reichte die Petition am 12. Dezember 2017 im Bundestag ein. Zu diesem Zeitpunkt ging sie davon aus, dass der §219a in seiner jetzigen Form nicht mehr lange weiter bestehen wird, da er Frauen den Informationszugang zum Thema Abtreibung erheblich erschwert, jedoch jeder das Recht haben sollte sich zu erkundigen.

 

 

Doch erst jetzt – mehr als ein Jahr später – scheint die Politik zu reagieren. In Zusammenarbeit mit der Union haben SPD-Verhandler*innen es kürzlich geschafft, eine Lockerung des „Werbeverbots“ zu erwirken. Nach der Abstimmung am 21.02.2019 im Bundestag soll der §219a nun reformiert werden: Auf Webseiten von Ärzt*innen und Krankenhäusern darf stehen, dass Abbrüche gemacht werden, für weitere Informationen muss jedoch auf Behörden, Beratungsstellen und Ärztkammern verwiesen werden.

Die Lockerung stellt einen Fortschritt dar, jener ist im Zuge der jahrelangen und stringenten Forderungen der Abschaffung des Paragraphen jedoch lediglich ein minimaler. Zukünftig soll trotzdem für die „Nicht-Kommerzialisierung“ garantiert werden und der „Verharmlosung“ von Schwangerschaftsabbrüchen entgegengewirkt werden

 

 

 

Der pharmazeutische Markt bietet allerlei Möglichkeiten, um sich vor einer Schwangerschaft zu schützen. Gründe, warum diese Branche zu einem festen Bestandteil des Lebens geworden ist, werden wohl fast ausnahmslos jedem einfallen. Pille & Co. bewahren das Recht auf Selbstbestimmung. Umso normaler es ist, eine Empfängnis zu verhindern, desto rabiater scheint der Aufschrei, wenn eine Schwangerschaft wieder abgebrochen wird. Genauso absichtlich, wie viele Frauen eine Schwangerschaft verhindern wollen, kann es auch vorkommen, dass eine vorzeitige Beendigung der Schwangerschaft gewünscht wird.

„Ich empfinde die Rechtslage in Deutschland als ausgesprochene Zumutung. Das soll nicht in Abrede stellen, dass es nicht auch Länder inner- und außerhalb Europas gibt, in denen die Lage für Frauen, die einen Schwangerschafts-Abbruch durchführen lassen wollen, noch repressiver ist. Nichtsdestotrotz wirkt es auf mich geradezu bizarr, dass so etwas wie ein medizinischer Eingriff, den der Gesetzgeber zunächst aus einer moralisch neutralen, wissenschaftlichen Perspektive betrachten sollte, in einem modernen, demokratischen Staat wie Deutschland unter Strafe gestellt und die Durchführung nur unter Einhaltung bestimmter strafrechtlicher Auflagen geschehen kann. Diese juristische Haltung erzeugt enormen Druck für betroffene Frauen, deren Angehörige sowie Ärzte und Ärztinnen.“

Die heute 29-jährige Interviewpartnerin blickt zurück auf ihre Abtreibung vor 5 Jahren. Im Gespräch berichtet sie über ihre persönlichen Erfahrungen, spricht über aktuelle Missstände und erklärt, warum sie in die Niederlanden reiste, um die Abtreibung durchzuführen. Hier geht es zum ganzen Interview.

 

 

Was ganz klar aus dem Interview zu entnehmen ist, ist der Wunsch nach einer Enttabuisierung von Abtreibungen. „Der Gesetzgeber möchte [jedoch] nicht, dass über den Schwangerschaftsabbruch in der Öffentlichkeit diskutiert wird, als sei es eine normale Sache“. – so die Begründung des Urteils der vorsitzenden Richterin im Fall Kristina Hänel. Die Bezeichnung „normal“ bezieht sich meist auf etwas, das durchschnittlich oder alltäglich ist. Alltägliches, das oft mit bedeutungslos gleichgesetzt wird oder auf Selbstverständlichkeit hinweist, die einfach hingenommen wird. Wenn man sich die Zahlen vergegenwärtigt, sieht man, dass weltweit täglich zahlreiche legale und illegale Abtreibungen durchgeführt werden. Unter diesen Umständen wird deutlich, dass über diese Thematik geredet und diskutiert werden sollte, beziehungsweise muss, da sie so viele Menschen betrifft.

Pro Jahr gibt es weltweit insgesamt 80 Millionen ungewollte Schwangerschaften, von denen 45 Millionen abgebrochen werden. Die Hälfte aller durchgeführten Abtreibungen gelten als unsicher, weswegen 68.000 Frauen bei dem Eingriff sterben. Viele weitere Millionen wurden durch die Abtreibung verletzt oder tragen dauerhafte Behinderungen davon fort. Die WHO differenziert zwischen weniger sicher und am wenigsten sicher. Ersteres beschreibt die Durchführung mit veralteten Methoden, zweiteres den Eingriff durch eine untrainierte Personen mit gefährlichen Methoden.

 

 

 

Ich bin frei in der Entscheidung, ob ich mich einem medizinischen Eingriff aus gesundheitlichen Gründen unterziehen will. Analog hierzu die drastische Entscheidung zur Sterilisation. Es würde sich bei all diesen Eingriffen um meinen eigenen Körper handeln. Dieser Status Quo verändert sich allerdings wenn man schwanger ist: aus einem Lebewesen werden zwei. Oder nicht? Das richtige Wording ist hier maßgeblich für die weitere Auseinandersetzung mit der Abtreibungsdebatte.

Vertreter der Gegenfront von Abtreibungen, selbsternannte Lebensschützer, setzen hier an. Die Frau und das ungeborene Kind werden zu zwei Individuen. Folglich finden Abtreibungsgegner ihre Berufung darin, ein Lebewesen zu schützen, das noch nicht für sich selbst einstehen kann. Es findet somit eine klare Abgrenzung des Ungeborenen zur Mutter statt. Zu dem Zeitpunkt der Geburt, sowie die Jahre danach wäre das Kind jedoch nicht in der Lage alleine zu überleben. Deswegen sollte sich hier die Frage gestellt werden, ob Mutter und Kind gedanklich und physisch voneinander überhaupt zu trennen sind. Für Abtreibungsgegner hat das Überleben des Fötus mehr Gewichtung als der Wille der schwangeren Frau.

 

 

 

Wenn man einen Blick auf die Internetseiten der Abtreibungs-Gegner wirft, entdeckt man beim Bundesverband für Lebensrecht einen Aufschrei nach Aufklärung. Diese Auskunft soll nach den Abtreibungsgegnern jedoch einseitig vollzogen werden. Informationen für ein Leben mit Kind, nicht aber für ein Leben ohne.

 

Der Flyer vom Bundesverband Lebensrecht e.V. wird beispielsweise großflächig von einem unschuldig dreinblickenden Baby, das auf seiner Stirn den Barcode „Qualitätsgeprüft“ verpasst bekommen hat, geziert. Dieser Flyer bringt eine neue Komponente ins Spiel: Die Technisierung der Schwangerschaft. Angst vor Ausmusterung und der Herstellung eines perfekten, gesellschafts-genormten Babys. Eugenische (Eugenik = Erbgesundheitslehre) Beweggründe zur Abtreibung, die das Potenzial in sich bergen, sich auf utopische Vorstellungen auszuweiten, wie die selektive Auswahl nach Vorlieben, sind ernstzunehmende Beweggründe, die hinterfragt werden sollten. Dieser Aspekt befördert die Debatte allerdings in eine andere Dimension, bei der es gilt, andere thematische Räume aufzumachen.

Die Punkte 3 und 4 auf dem Flyer der Lebensrechtler sind besonders interessant, da dort Aufklärung und Rechte eingefordert werden.

 

 

3. Mehr AUFKLÄRUNG, die Frauen und Kinder berücksichtigt!
Keine Werbung für Abtreibung (§ 219a), sondern mehr Informationen
über das Leben mit Kind und über schädliche Folgen für Frauen nach Abtreibung

Gegner*innen des §219a kritisieren oft den Gebrauch des Wortes Werbung. Wenn man den Begriff Werbung hört, verbindet man damit sofort einen kommerziellen Zweck. Produkte, die ihren Platz im Markt finden, sichern und ausweiten wollen. Die Werbung als eine Art Verführer*in. Somit dürfen Gynäkolog*innen mit wilden Wörtern, wie Ersttrimesterscreening oder Feindiagnostik laut Gesetz „werben“, um sich gegenüber anderen Praxen zu behaupten. Jedoch können viele Patientinnen sich nicht darüber informieren, ob dieser Arzt oder diese Ärztin eine Abtreibung durchführen würde. Dabei sollte dies fern einem Angebotskatalog liegen, sondern vielmehr ein Teil der ärztlichen Dienstleistung sein. Warum stellt Abtreibung ein so großes Tabu dar und was ist eigentlich ein Tabu?

 

4. Mehr RECHTE für Kinder!
Für ein bedingungsloses Ja zum Kind und gegen Scheine, die Abtreibungen legitimieren

Profamilia gehört zu einer der bekanntesten Einrichtungen, die sich auf die Fahne geschrieben hat, für Information und Aufklärung im Bereich Sexualität und Familienplanung zu sorgen. Sie selbst beschreiben sich auf ihrer Webseite als „größte nichtstaatliche Organisation für Sexual-, Schwangerschafts- und Partnerschaftsberatung in Deutschland.“. Für Frauen, die sich in einem Schwangerschaftskonflikt befinden, ist Profamilia der richtige Ansprechpartner, um sich an eine der Beratungsstellen weiterleiten zu lassen. Es ist notwendig sich vor einem Abbruch einer Schwangerschaftskonflikt-Beratung zu unterziehen. Der Schwangeren sollen ihre Möglichkeiten aufgezeigt werden, die sie im Internet oder bei ihrem Frauenarzt möglicherweise nicht erhalten konnte. Die Mitarbeiter*innen sind dazu bemächtigt, nach Ausgang des Gesprächs einen Schein auszustellen, mit dem man dann befugt ist eine Abtreibung durchzuführen. Der Beratungsschein ist in Deutschland eine Notwendigkeit, um innerhalb der gesetzlich geregelten Fristen straffrei eine Schwangerschaft vorzeitig zu beenden.

Die Suche nach einem qualifizierten Beratungsgespräch ist oft schwierig, da man schnell an Institutionen gerät, die zwar eine Beratung anbieten, jedoch letztendlich nicht dazu befugt sind, die Beratungsscheine auszustellen. Somit geraten Schwangere oft an Menschen, die nicht fachlich beraten, sondern den Frauen eigene Überzeugungen aufstülpen wollen. So gibt es zum Beispiel die Seite Pro Femina, die zunächst stark an Profamilia erinnert. Jedoch handelt es sich dabei um eine nichtstaatliche Institution, die sich als ein kostenfreies Beratungsangebot für Frauen im Schwangerschaftskonflikt bezeichnet. Es ist auffällig, dass Pro Femina auf einen direkten Kontakt abzielt. Bereits rechts oben in der Ecke ihrer Webseite findet sich ihre Telefon-Hotline. Ein wenig tiefer gibt es die Möglichkeit, eine E-Mail abzuschicken. Dies geht weiter über ein Kontaktformular bis hin zu einem Abtreibungstest, bei dem man, wenn man sein Ergebnis haben möchte, seine E-Mail-Adresse hinterlassen muss. Die Eingabe dieser Kontaktdaten sorgt dafür, dass man immer wieder unvereinbart angeschrieben und angerufen wird. Für Frauen, die eine Abtreibung in Erwägung ziehen, stellt das eine große Verunsicherung dar. Vor allem wenn man davon ausgeht, dass man dort einen Beratungsschein ausgestellt bekommt, das jedoch nicht der Fall ist. Möglicherweise ein Schock für eine Frau, der nicht mehr allzu viel Zeit bleibt, den Eingriff durchführen zu lassen.

 

 

 

 

 

Oft ist im Zusammenhang mit dem Werbeverbot die Rede von schädlichen und traumatischen Folgen für die abtreibende Frau, wie zum Beispiel ein Post-Abortion-Stress-Syndrom. Jene psychische Erkrankung gilt als mögliche Folge eines Schwangerschaftsabbruchs. Die Frage nach den psychischen Folgen einer Abtreibung wird stark diskutiert. Nicht jede Frau, die ihre Schwangerschaft aus persönlichen Gründen abgebrochen hat, leidet unter dieser Entscheidung. Petra Herrmann von der Diakonie Leipzig sagt:

,,Wie es ihr nach dem Abbruch geht, hängt von der Klarheit und Eigenständigkeit der Entscheidung ab, von dem Erleben des Abbruchs überhaupt und von dem sozialen Umfeld, in dem sie lebt. Nicht jede Frau trauert, manche sind auch erleichtert und manche trauern intensiv.“

Genauso werden manche körperlich oder seelisch krank, während andere gesund bleiben. David M. Fergusson – Direktor des Christchurch Health and Development Study – untersuchte in einer Übersichtsstudie an der Universitiy of Otago (Neuseeland) den Zusammenhang von Mental Health und Abtreibung. Dies betrachtete er in fünf Kategorien: mögliche Angstzustände, Depressionen, Alkoholmissbrauch, illegaler Drogenkonsum und Suizidalität. Das Ergebnis, welches in der Australian and New Zealand Journal of Psychiatry erschien, besagte, dass eine Abtreibung das Risiko für psychische Probleme erhöht, insbesondere stellte man eine Steigerung des Risikos für Alkohol- und Drogenmissbrauch fest. Das Ergebnis spiegelt wieder, was auch die weltweit umfangreichste Meta-Analyse – veröffentlicht im British Journal of Psychiatry – gezeigt hatte, nämlich dass 10 Prozent aller psychischen Probleme bei Frauen in direktem Zusammenhang zu einer Abtreibung stehen. Kann man sich auf diese Daten berufen? Ob die psychischen Probleme ausschließlich aus dem durchgeführten Schwangerschaftsabbruch hervorgehen, oder mit unserer Gesellschaft und ihrer Einstellung zu dem Thema zu tun hat, ist bisher aus der Sicht der Wissenschaft noch ungeklärt. Das diese Faktoren aber eindeutig eine große Rolle spielen, zeigt auch das Zitat unserer Interviewpartnerin.

„Ich habe selbst keine solchen Erfahrungen [psychische Erkrankungen] gemacht, ich kann allerdings durchaus nachvollziehen, dass es zu Problemen kommen kann, denn die Atmosphäre ist in Deutschland stark schambehaftet und oft auch geprägt von unterschwelliger Schuldzuweisung. Das macht es für Frauen extrem schwer, einen normalen Umgang mit den Ereignissen ungewollte Schwangerschaft und Abbruch zu finden, was natürlich sehr aufwühlend und emotional belastend ist. Wenn man danach nicht offen darüber sprechen kann, ohne befürchten zu müssen, dass man dafür von anderen verurteilt und marginalisiert wird, kann großer psychischer Druck entstehen.“

Nicht wenige Frauen haben das Gefühl, stigmatisiert zu werden. Ebenfalls haben sie Angst vor den Reaktionen anderer – das Thema Abtreibung ist heute immer noch ein Tabu –, weswegen sie das Gefühl haben ihre Abtreibung geheim halten zu müssen. Dies belastet die Frauen zusätzlich, da sie so keine soziale Unterstützung erhalten können. Bettina Faulstich – die Vorsitzende des Bundesverbands Frauengesundheit sagt ebenfalls, dass die Haltung der Gesellschaft eine wichtige Rolle spielt. Viele Frauen bleiben mit Sorgen, Ängsten und inneren Nöten zurück. Es sollte mit dem Stigma gebrochen werden, dass es fast nur junge Mädchen sind, die sich aufgrund ihres Alters für eine Abtreibung entscheiden. Frauen in allen Altersklassen beschließen aus unterschiedlichsten Gründen, ihr Leben ohne (ein weiteres) Kind zu verbringen. Dies spiegelt sich auch in der folgenden Grafik wieder.

 

 

 

 

Frauen sollen nicht froh sein müssen über das, was sie bisher dürfen. Ein Gedankengut, das in einem Artikel (16.01.2019) zum 100-jährigen Wahlrecht der Frauen von Teresa Buecker (Chefredaktorin des Online Magazins Edition F) zu finden ist. Diese Aussage zielt darauf ab, das Frauen stets eine untergeordnete Entscheidungsrolle zugetragen bekommen haben und das dieser Prozess des Umdenkens und Zugestehen der Rechte der Frauen noch lange nicht abgeschlossen ist. Frauen sollten sich demnach nicht damit zufrieden geben, dass grundsätzlich die Möglichkeit besteht abzutreiben und sich auf bestimmten, momentan erschwerten, Wegen Informationen zu diesem Thema zu beschaffen. Es sollte vielmehr zu einer Selbstverständlichkeit werden, dass man den Zugang zu Informationen hat und dafür muss weiter gekämpft werden. Teresa Buecker, die sich für ein selbstbestimmtes Leben der Frauen einsetzt, war unter anderen in der Sendung vom 03.02.2019 zu Besuch bei Anne Will. 

 

Der Bundestag hat aufgemerkt und verstanden, dass aufgrund der Anzahl an verurteilten bzw. laufenden Ermittlungen gegen Ärzt*innen, diese Thematik nicht allein den Gerichten überlassen werden kann. Ärzt*innen werden kriminalisiert und ebenso wie die schwangeren Frauen häufig mit Mörder*innen gleichgesetzt. Nun stimmte der Bundestag am 21.02.2019 dafür ab, dass der §219a reformiert werden soll. 371 Abgeordnete stimmten dafür, 277 dagegen. 

Das „gute alte Recht“ (Depenheuer, 2003: 7) selbst ist befangen von einer Unantastbarkeit. Ein Recht zu brechen, das moralisch aufgeladen ist, führt dazu, dass sich der Status der strafbar gewordenen Person verändert. Man selbst wird zu einem/r Verbrecher*in – einer Randfigur der Gesellschaft. Gesetze können nur aufrechterhalten werden, indem es ein Tabu ist sie zu brechen. Sie scheinen oft sogar davor bewahrt zu sein, infrage gestellt zu werden. Jedoch sind Gesetze keine Konstante, sondern wandelbar. Im Zuge einer Hinterfragung eines Tabus etabliert sich unscheinbar ein Neues. Tabus implizieren eine Handlungsmöglichkeit, „die es nicht geben darf“ (Ebd.: 18). Hierbei betrifft dies Beschränkungen des Informationsrechts von Frauen. Das darüberhinaus Ärzte kriminalisiert und in der Art nicht weiter hingenommen werden will.

Die Tatsache alleine, dass Abtreibungen nur unter bestimmten Bedingungen nicht strafrechtlich geahndet werden, zeigt auf, dass wir es mit keiner alltäglichen, „normalen“ Sache zu tun haben. Aber wir müssen normal darüber reden können und verstehen, warum es ein drastischer Eingriff in die Gesellschaft ist, dass Frauen nun den Zugang zu sachlichen Informationen erlangen sollen. Die Annahme, Abtreibung sei etwas Normales ist absurd. Sicherlich vollzieht keine Frau gerne oder gar regelmäßig (da Normalität und Alltäglichkeit mit einem wiederkehrenden Ablauf verbunden werden) den Prozess, den sie ab dem Kauf des Schwangerschaftstest bis zur Abtreibung durchlaufen muss. An dieser Stelle sei erwähnt, dass mit diesem Eingriff auch Kosten verbunden sind, die die Frau alleine tragen muss, auch wenn Mann und Frau gleich involviert sind.

Das Hauptaugenmerk bei den Debatten im Jahr 2018 liegt auf der Selbstbestimmung der Frau und ihrem Recht sich zu informieren. Es geht also grundsätzlich um den Selbstbestimmungsbegriff an sich und nicht darum, ob man Abtreibung befürwortet oder nicht. Frauen sollten die Möglichkeit haben sich ausreichend aufklären zu lassen.

Die Maßnahme, die psychischen Folgen von Frauen, die abtreiben, zu erforschen, scheint kein Schritt vorwärts zu sein. Man könnte ebenso gut untersuchen, welche traumatisierenden Folgen es für eine Frau hat, ein Kind auszutragen, obwohl man es gar nicht wollte oder die psychischen Folgen wenn man ein Kind nach der Geburt abgegeben hat. Hier gibt es keinen richtigen oder falschen Weg. Jedes Individuum muss für sich selbst einen Lebensweg bestimmen. 

Wenn man möchte, dass weniger Frauen abtreiben, dann sollte man dafür sorgen, dass Kinder nicht mehr das größte Armutsrisiko darstellen und sich für eine bessere Vereinbarung von Studium beziehungsweise Beruf und Kindern einsetzen; des Weiteren müssten alternative Familienmodelle gestärkt werden. Ein Paragraph, der die Informationsfreigabe verwehrt und über die Köpfe der Frauen entscheidet, kann und darf jedoch keine Lösung darstellen.

Damit Veränderung in Gang treten kann brauchen Organisationen wie ProChoice deine Unterstützung. Falls du von deren Aktionen auf dem laufenden bleiben möchtest, schau hier rein!

 


 

 

 

 

Wut. Einem unliebsamen Gefühl auf der Spur.

Wir sind auf der Suche, legen uns auf die Fährte. Unser Interesse gilt etwas, das jeder kennt und die wenigstens sich eingestehen wollen: Wut. Um ihr auf die Spur zu kommen befragen wir die Philososophie, Soziologie und Psychologie nach Deutungen von und dem Umgang mit der Wut, beleuchten das destruktive und konstruktive Potential dieses Grundgefühls und suchen nach emotionalen und strukturellen Verbündeten und Widersachern. Wir holen einen totgeglaubten Klassiker hervor und schlagen den Bogen in die Gegenwart. Wir hören, was Menschen verschiedenen Alters, Geschlechts und Herkunft heute wütend macht und wie sie es mit der eigenen Wut halten. Kurz: Wir räumen der Wut einen Platz ein, ohne ihn ihr zu überlassen. Continue reading