Zuhause fühlen

von Joanna Piekarska, Juliane Herbst, Marie Eisenmann und Lisa Schellig

- Ursprünglich - 
Ur·sprung
/Úrsprung/
Substantiv, maskulin; [der] Beginn; Material, Ort, Zeitraum,
von dem etwas ausgegangen ist, seinen Anfang nehmen

Unser Ursprung. Der Ort, an dem wir unseren Anfang genommen haben, an dem wir unsere Kindheit, möglicherweise unsere Jugend verbracht haben, und an dem wir von äußeren Einflüssen geprägt worden sind. Der Ort, an dem wir zu der Person herangewachsen sind, die bereit war, die ersten eigenen Schritte hinaus in die Welt zu gehen.
Doch ist dieser Ort auch Heimat oder Zuhause?

Was ist das alles überhaupt? Ist Heimat der Ort, an dem wir jeden Morgen aufwachen, oder der, an dem wir den Großteil unserer Kindheitserinnerung gemacht haben? Ist Zuhause das Land, dessen Sprache wir sprechen, oder jenes, dessen Pass wir besitzen? Sind die Personen, die uns in den ersten Jahren des Lebens begleitet haben, Familie, oder sind es jene, die uns in den letzten begleiten? Wer sind wir überhaupt, ohne unsere Ursprünge zu berücksichtigen?

Die eigene Identität ist ein vielschichtiges, komplexes Gebilde und die Frage nach ihr treibt viele Menschen von ihrer Heimat in die Fremde, in die weite Welt. Die Suche nach sich selbst begleitet manche Menschen ein Leben lang, doch vielleicht liegt die Antwort gar nicht so weit entfernt, wie wir glauben, wenn wir uns anschauen, woher wir kommen.


In Wirklichkeit aber ist kein Ich, auch nicht das naivste, eine Einheit, sondern eine höchst vielfältige Welt, ein kleiner Sternenhimmel, ein Chaos von Formen, von Stufen und Zuständen, von Erbschaften und Möglichkeiten.

Hermann Hesse – Der Steppenwolf

Um Antworten zu finden, haben wir uns mit vier Personen unterhalten, deren Leben unterschiedlicher nicht sein könnten. Wir sprechen über Zuhause und Heimat, über’s Aufbrechen, Ankommen, Hinterfragen und Dazugehören; und darüber, wie viel von alle dem ausmacht, wer wir sind.

aufbrechen

Fotografin: Juliane Herbst

Was bedeutet Heimat für junge Menschen, die vor kurzem aufgebrochen sind, und ihre Heimat verlassen haben? Juliane hat dazu mit unerschiedlichsten Freund*innen gesprochen. Und obwohl sie alle verschieden sind, sagen doch alle dasselbe: Heimat ist der Ort, meistens auch das Haus, in dem sie aufgewachsen sind. Es wird von Kindheitserinnerungen gesprochen und ein Ort der Verwurzelung beschrieben, an dem die Eltern und Geschwister sind. Dort, wo sie sich geborgen fühlen. Es werden Standortfaktoren genannt, die den Heimatort ausmachen, wie zum Beispiel das Meer oder Berglandschaften.

Für jeden ist es aber etwas ganz Eigenes, das das Gefühl nach Heimat auslöst: Die kleine Stadt an der Ostsee, der Blick aus dem Fenster auf die Berge, der Hinterhof in Hamburg, die Wälder, in denen sie als Kind früher immer auf Bäume geklettert sind. Es kann aber auch der Geruch von frischen Brötchen an einem Sonntagmorgen sein, die lange Straße, die sich durch die ganze Stadt schlängelt, das Stimmengewirr der Familie, wenn die Haustür geöffnet wird und alle zusammen Waffeln essen, das spontane Treffen von alten Bekannten in der Stadt und auch der Geschmack von Kaffee, der nur bei den eigenen Eltern genau so schmeckt.
Wie schon Herbert Grönemeier gesungen hat: „Heimat ist kein Ort, Heimat ist ein Gefühl!“

Unsere Heimat ist dort, wo wir uns wohl, akzeptiert und geborgen fühlen.

Fachbteilung des Bundesministeriums für Inneres, für Bau und Heimat

Wenn die von Juliane befragten Personen allerdings von Zuhause erzählt haben, wurde zusätzlich vom aktuellen Wohnort, dem Haus oder der Wohnung und von Freunden und Familie gesprochen. Bei Vielen gibt es einen Punkt im Leben, an dem sie ihre Heimatstadt verlassen. Aufbrechen. Sei es für eine Ausbildung, ein Studium, einen Job, die eigene Familie oder die bloße Sehnsucht danach, mehr zu sehen und mehr Orte Zuhause nennen zu können.
Allein zwei Drittel der angehenden Student*innen verlassen direkt nach der Schule ihre Heimatstadt. Das sind in Deutschland knapp zwei Millionen junge Menschen.

Es gibt einen Unterschied zwischen Heimat und Zuhause, auch wenn er nicht sehr groß ist. Auf den ersten Blick ist er kaum zu erkennen und für jeden individuell und ganz persönlich:
Heimat ist all das, was die Kindheit und Jugend prägt. Heimat kann Zuhause sein. Zuhause kann aber auch der Ort sein, an dem man drei bis vier Jahre gelebt hat oder eine Wohnung, in der man sich unglaublich wohl gefühlt hat, sie aber für einen Umzug verlassen hat. Man kann sich also an mehreren Orten im Laufe seines Lebens zuhause fühlen. Manchmal auch an mehreren gleichzeitig.

Für einige sind Heimat und Zuhause dasselbe, andere bauen sich auch eine zweite Heimat auf, wenn sie eine lange Zeit am selben Ort leben und sehen, wie dieses Zuhause möglicherweise auch die Heimat der eigenen Kinder wird.
Fast zwei Drittel der von Juliane befragten Personen, die sich in ihrer Heimat wohlgefühlt haben und eine schöne Kindheit in Erinnerung haben, wollen gerne dorthin zurückkehren. Sei es, um eine Familie zu gründen, um den eigenen Kindern eine ähnlich schöne Kindheit und Jugend zu ermöglichen, um sich zur Ruhe zu setzen oder um einfach wieder in der Heimat zu sein. Weil doch kein anderer Ort so ein Gefühl nach Geborgenheit geben kann wie die ursprüngliche Heimat.

Wie verändert sich unsere Verständnis von Heimat, wenn wir uns ein neues Zuhause aufgebaut haben? Um zu beantworten, wie junge Menschen sich mit ihrer Heimat und ihrer Familie verbunden fühlen, spricht Juliane mit Charlotte.


Doch was bedeutet Heimat und Zuhause, wenn man nicht nur seine Heimatstadt verlässt, sondern auch das Land, um woanders ganz neu anzufangen? 2018 lebten in Deutschland 20 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund.

Eine davon ist Joannas Mutter, die 831km von dem Ort, den sie 25 Jahre lang ihr Zuhause genannt hat, eine neue Heimat gefunden hat. Sie hat für den Artikel ihrer Tochter zum ersten Mal ausführlich über ihren Weg gesprochen und dabei weniger vom Aufbrechen erzählt, dafür viel vom Ankommen, Dazugehören und Zuhause fühlen.

ankommen

Fotografin: Joanna Piekarska

Meine Mutter ist vor 32 Jahren von Danzig nach Deutschland gekommen. Mit 25, zwei Jahre älter als ich es jetzt bin, hat sie ihr ganzes Leben in einen einzigen Koffer gepackt und ist mit meiner Oma in eine Kleinstadt an der Nordsee gezogen. Bis heute verstehe ich nicht, wie man sich von allen Orten in Deutschland ausgerechnet Brunsbüttel aussuchen kann, wo es mehr Schafe als Einwohner*innen gibt, und wo alle Frieda, Emma oder Johanna heißen, blonde Haare haben und miteinander verwandt sind.
Ohne Sprachkenntnisse hat sie in Deutschland, als älteste im Kurs, ihre zweite Lehre abgeschlossen und ein Kind bekommen. Meine Mutter wohnt heute in ihrem eigenen Haus, arbeitet seit 30 Jahren im gleichen Krankenhaus als Krankenschwester und ist seit 10 Jahren mit einem Mann zusammen, den sie in eben diesem Krankenhaus kennengelernt hat. Wolfgang, der Socken in Sandalen trägt, jeden Sonntag Tatort guckt und im Frühling bei 10 Grad die Grillsaison einleitet.

Wir haben immer schon viel gesprochen, auch über Polen. Aber weitgehend darüber, was es für mich bedeutet. Wie schwer es für mich ist, an Familienfeiern im Gespräch mit meinen gleichaltrigen Cousins und Cousinen händeringend nach Worten zu suchen; verzweifelte Versuche, einen Witz zu machen, der zeigen soll „wie ich wirklich bin.“

Dass meine Mutter dieses Gefühl nicht nur auf Familienfeiern, sondern immer hat, war mir lange gar nicht bewusst. Ich dachte immer, sie sei einfach eher der ruhige Typ, der am Tisch keine großen Reden schwingt, sondern eher zuhört, der zwar meine Witze oft nicht versteht, aber selbst auch keine bringt. Dass sie vermutlich einfach nicht lustig ist. Der einzige Witz, der regelmäßig kommt, ist der, dass sie Analphabetin ist. „Ich kann nicht richtig deutsch, aber polnisch auch nicht mehr so wirklich.“ Wir lachen dann meistens kurz und reden dann weiter über, richtig, mich.

Meine Mutter äußert sich nur selten sehnsüchtig über ihre Herkunft. Früher noch deutlich öfter als heute. Sie sagt höchstens mal, dass sie die S-Bahn in Hamburg an Danzig erinnere und freut sich, wenn unsere Verwandten beim Besuch richtig gute polnische Wurst mitbringen. Sie kennt keine polnischen Musiker*innen, braucht noch länger dafür, polnische Texte zu verstehen als deutsche und über die polnische Politik weiß sie nur das, was in der deutschen Tagesschau gezeigt wird. Trotzdem kann absolut niemand ihren Namen richtig aussprechen und ihre Herkunft ist oft das Erste, wonach sie gefragt wird.
Wie ich mich identifiziere, ist keine Frage. Darüber, wo sie sich zuhause fühlt, haben wir aber noch nie gesprochen. Ist sie angekommen?

Wir telefonieren. Es scheint mir, als freue sie sich, dass jemand ihr Fragen stellt, und sie mal nur über sich reden kann. Ich stelle die erste Frage: Wie sie sich identifiziert. „Ich… Als Europäer. Ich bin Deutsche, aber ich kann das nicht verdrängen, dass ich aus Polen komme. In mir ist auch polnisches Blut. Da ist meine Jugend, meine Kindheit. Ich bin halb, halb. Aber ich fühle mich als Deutsche. Aber ich kann auch Polen nicht verdrängen, das geht nicht. Ich bin zwar 100%ig angekommen, aber die Sehnsüchte sind immer da.“

Okay, das war eine Frage zum warm werden, auch die Antwort kommt mir noch nicht ganz natürlich vor. Aber dass sie keine eindeutige Antwort gibt, hätte ich mir auch vorher schon denken können.
Ich frage also, welche Rolle ihre Herkunft dabei spielt, wie sich sich identifiziert. „Ist wichtig“, antwortet sie. „Weißt du, ich komme aus einem christlichen Arbeiterland. Es spielt eine große Rolle, von wo du kommst. Arbeiten, fair sein, fleißig… dass nichts vom Himmel fällt… Das alles habe ich in Polen gelernt, und das kann ich hier alles weiterleben. Menschen respektieren, das ist schon wichtig.“

„Und was ist Heimat für dich?“, frage ich. „Oh Gottes Willen. Heimat für mich ist…“ Pause. Sie überlegt. Meine Mutter ist niemand, der Sachen wie „home is where your heart is“ sagt, generell ist sie ein eher pragmatischer Mensch, der nicht unbedingt über den Sinn des Lebens nachdenkt.
„Naja, wo ich Arbeit habe, wo ich Familie habe,…“, sagt sie. Ich unterbreche, dass ihre ganze Familie, ihre Brüder, Cousinen, Neffen und Nichten aber in Polen geblieben sind. „Aber die wichtigsten Personen, dich und Oma, habe ich hier.“ Arbeit und „die wichtigsten Personen“ scheinen also zu reichen, um Heimat für sie zu definieren.

Mein Zuhause ist kein Ort, das bist du.

Fynn Kliemann

Sie überlegt dann lange. „Weißt du, Europa, das ist alles so bisschen ähnlich.“ Klar, weder die Kultur ist groß anders, noch ist die Distanz nach Polen unüberwindbar. Mit einer Stunde Flugzeit oder einer 8-stündigen Autofahrt ist es schon machbar, sich mehrmals im Jahr zu sehen. Scheint also kein Thema zu sein.

Sie spricht dann weiter, und ich merke, wie sie richtig auftaut und dabei immer mehr zu erzählen hat: „Heimat sind auch Rituale, zum Beispiel Weihnachten, dass ich das hier weiterleben kann, was ich in der Kindheit gelernt habe, dass man hier in Ruhe leben kann, arbeiten, dass meine Familie auch glücklich ist. Soziale Kontakte, die baut man mit den Jahren auf. In Polen kenne ich niemanden mehr, das ist alles verloren gegangen durch die Ausreise. Aber ich vermisse auch die polnische Mentalität, aber das hat jeder… wo man groß geworden ist. Ich habe schließlich 25 Jahre in Polen verbracht.“

„Aber am Anfang bricht die Welt zusammen, das muss ich sagen, man vermisst die einfachsten Sachen, in dem Land, das man verlassen hat, auch wenn man vorher nicht viel hatte. Auch dass man die Sprache nicht kennt. Das ist schon ein harter Weg.“

Sprache, unser Lieblingsthema. Ich frage also, wie wichtig Sprache dabei ist, dass man sich in einem Land angekommen fühlt. Ehrlich gesagt war ich mir sicher, dass sie sofort zubeißt und genau das sagt, was ich erwarte: Dass Sprache das Wichtigste ist, um sich als Deutsche zu fühlen. Stattdessen überlegt sie lange und sagt dann: „Ich weiß nicht, ob das von der Sprache abhängig ist. Man hört ja gleich, dass ich nicht aus Deutschland komme, aber das stört mich nicht. Man verliert den Akzent nicht, ich akzeptiere das, mein Umfeld akzeptiert mich. Das ist meinem Umfeld egal. Ja, ich möchte perfekt deutsch sprechen, aber das ist unmöglich.“

„Aber manchmal merke ich das. Manchmal gibt es so Situationen, wo manche Leute… also nicht mein Umfeld… sondern Patienten… nicht so viel Vertrauen haben. Das ist schon vorgekommen, durch die Sprache wird man abgestempelt. Auf dem Amt zum Beispiel auch. Beim Telefonat. Ich kann mich durchsetzen, aber manchmal merkt man, dass die Sprache Einfluss hat, wenn man mich nicht kennt. Hier auf dem Dorf zumindest. In Berlin bestimmt nicht.“ Dann lacht sie. Ich frage mich, wer sie wäre, könnte sie alles so ausdrücken, wie sie es will. Dass sie es nicht kann, scheint sie nicht zu stören. Warum ist es für mich ein Problem? Ich schäme mich, dass ich in den allerhässlichsten Streits auf dem Höhepunkt meiner Pubertät angefangen habe, ihre sprachlichen Fehler zu korrigieren, wenn mir die Argumente ausgegangen sind.

„Bevor du geboren wurdest, war ich noch so hin- und hergerissen. Deutschland ist aber mit deiner Geburt noch mehr zu meiner Heimat geworden.“ Ich frage, ob Wolfgang auch eine Rolle dabei spielt. „Ja, schon.“ Mehr als das sagt sie dazu aber nicht.

„Glaubst du, du wärst jemand anderes, wärst du unter anderen Bedingungen aufgewachsen?“ Eigentlich gibt es eh nur eine Antwort auf die Frage. „Ja logo.“, bestätigt sie also.
„Guck, ich bin im Kommunismus groß geworden. Das habe ich am Anfang auch in der Schule (Anm. d. Redaktion: Krankenpflegeschule) gemerkt. Man durfte ja nichts sagen. Wenn ich mich jetzt mit dir vergleiche, das ist so ein großer Unterschied. Am Anfang hier hatte ich solche Angst was zu sagen, das ist die kommunistische Erziehung. Ich war nicht so frei wie jetzt.“

„Ich wäre bestimmt ein anderer Mensch geworden, wenn ich hier groß geworden wäre. Familie da lassen, hier sich das alles aufzubauen, das prägt den Menschen. „

Meine Frage, wie sie sich ohne Fremddefinierung und den „Stempel“ von außen definieren würde, versteht sie nicht. Zugegeben, ist sie ein bisschen schwierig. Meine Mutter sagt, sie sehe sich selbst nicht als die Ausländerin im Bekanntenkreis. „Trotzdem wäre es einfacher im Alltag, ohne den Stempel. Auch nach 32 Jahren hat man ihn noch.“

Ich formuliere die Frage um und frage weiter: „Wenn alle Deutschen dich als Deutsche sehen würden, würde das was ändern?“ „Ja, das wäre bestimmt schön.“ sagt sie nur. Beinahe habe ich den Eindruck, dass ich mit meinen Fragen eine bestimmte Art von Antwort erwarte, die einfach nicht kommt. Meine Mutter sieht die Welt anders als ich, deutlich einfacher. Sie ist hier zuhause, weil hier ihre Arbeit, ihr Partner und ihr gemeinsamer, weitgehend deutscher, Bekanntenkreis ist. Der „Stempel“ ist ihr egal.
Ich frage, ob es sie nerve, dass Leute fragen, wo sie herkommt. Nein, das störe sie gar nicht. Trotzdem erzählt sie mir dann von sich aus eine Geschichte.

„Neulich hat mich eine Patientin so nett gefragt: „Schwester, von wo kommen Sie?“ Das ist lieb gemeint. Der war das egal, wo ich herkomme, weil ich eine gute Krankenschwester bin. Ich weiß aber nicht, wie es wäre, wenn ich unter ihnen stehen würde. Irgendwas strahlt der weiße Kittel ja aus. Aber ich habe ein paar Mal Schikane erlebt. Ein Mann, da war ich noch Schülerin, wollte nicht von mir behandelt werden. Ein Nazi. Und ein Opa hatte auch ein Problem mit mir. Und einmal haben mich meine Kollegen auch vor einem Rechtsradikalen gewarnt. Ich habe den dann trotzdem behandelt, und er war doch ganz nett. Das war aber vor 30 Jahren.“

Beinahe unsensibel bohre ich weiter: „Wenn du die Wahl hättest, würdest du den Akzent ablegen?“ „Ich würde gerne besser deutsch sprechen,“ sagt sie „Aber ganz würde ich ihn nicht ablegen wollen. Das würde zwar die Kommunikation einfacher machen mit dir, aber ich werde das immer zugeben, dass ich aus Danzig komme. Weißt du, in Deutschland bin ich denke ich oft die Polin, in Polen die Deutsche. Aber in beiden Ländern sage ich selbst von mir, ich bin Deutsche. Auch im Ausland, wenn mich jemand auf Englisch fragt, wo ich herkomme, sage ich Deutschland. Die gucken dann nur immer verwirrt wegen meinem Akzent.“ Und wieder lacht sie. Kurz bevor wir auflegen sagt sie noch:

„Aber du musst schreiben, dass die Person Krankenschwester ist. Dass sie trotz allem das geschafft hat. In Deutschland. Das ist wichtig.“


Was passiert aber, wenn man selbst sein Heimatland nicht verlässt, sich aber trotzdem über Nacht alles um einen herum ändert? So wie für Lisas Mutter, die ebenfalls ihre Identität hinterfragen musste, als sie nach über dreißig Jahren plötzlich nicht mehr Ostdeutsche, sondern Deutsche war. Lisa führte mit ihr ein Gespräch darüber, was es bedeutet, wenn die eigene Identität mit der eines anderen Landes konfrontiert wird.

hinterfragen

Photo by Eric Ward on Unsplash

Ich bin ein sogenanntes Nachwendekind, 1996 geboren. Erzählt meine Mutter von früher, so fällt dieser Begriff recht häufig, „Wende“. Als ich noch sehr klein war, sagte mir das erstmal noch gar nichts. Erst später realisierte ich, dass es sich bei dem Begriff um die Berliner Mauer drehte bzw. um ihren Fall, aber auch um die Wiedervereinigung – eine Wende im doppelten Sinne. Lange Jahre meines Lebens schien diese ominöse Wende keine Rolle zu spielen; dachte ich zumindest. In der Schule lernte ich zwar irgendwann, was die Berliner Mauer war, doch für mich war es eher wie eine abgehakte Geschichte, etwas, das heute keine Bedeutung mehr hat. Erst in den vergangenen paar Jahren verdichtete sich das Bild ein wenig, vor allem durch mein Ethnologie-Studium, aber eben auch durch meine Mutter, die mich gefühlt zu jeder DDR-Ausstellung mitschleppt und sich oft mit mir über dieses Thema unterhält. Doch heute ist es ein Gespräch mit einem bestimmten Fokus. Ich frage mich, wie sich so etwas Gravierendes wie die deutsch-deutsche Teilung und danach die Wiedervereinigung auf die eigene Identität, aber auch auf die persönliche Vorstellung von Heimat auswirkt. Wir unterhalten uns in ihrer Küche.

Meine Mutter wurde 1956 in Berlin geboren, während des Studiums ihrer eigenen Mutter. Fast ein wenig stolz erzählt sie, dass die Milch für sie in der Ackerstraße geholt wurde, in deren Nähe sie heute einen eigenen Laden hat. Ihr Leben sei bewegt gewesen, sagt sie. Als uneheliches Kind wäre sie für ihre Mutter zu der Zeit „schwer zu händeln“ gewesen. Noch vor dem ersten Lebensjahr wurde sie übergangsweise bei ihren Großeltern in Erfurt untergebracht, in deren Haushalt auch noch der jüngste Sohn lebte. Während meine Mutter ihre frühen Kindheitserinnerungen beschreibt, fühle ich mich an einen Film erinnert. Sie erzählt von ihrem Onkel, der zu dieser Zeit ein Teenager war, auf einer Simson SR2 (auch „Hühnerschreck“ genannt) „durch die Gegend gurkte“ und von den Rock ‘n Roll hörenden Jungs, die zu dieser Zeit offenbar alle eine Elvis-Tolle trugen. Erst jetzt wird mir so richtig bewusst, in was für einer Zeit sie großgeworden ist und ich muss automatisch an Schmuse-Rock und laue Sommernächte denken. Meine Mutter lächelt, wenn sie davon erzählt. Die gute Zeit bei ihren Großeltern wirkt ein bisschen wie ein friedlicher Fixpunkt in ihrem Leben. Seien es die stundenlangen Wanderungen mit ihrem Opa, auf denen er ihr „die Welt erklärte“ oder die Knopfkisten ihrer Oma, die Schneiderin war und mit der sie viel Zeit verbrachte.

Fotografin: Sieglinde Schellig

Als die Mauer im August 1961 gebaut wurde, war meine Mutter gerade fünf Jahre alt. Sie erinnert sich noch daran, wie ihre Eltern und der Großvater zusammen im Wohnzimmer saßen und mit angespannten Mienen dem Rundfunk lauschten.

„Ich weiß, dass an dem Tag mein Großvater da war und die ganze Familie völlig betreten und schweigsam vor‘m Rundfunk saß. Und als ich da irgendwas geplappert habe, da wurde ich ziemlich harsch zurückgewiesen und bekam gesagt, ich solle bitte schön ruhig sein. Aber ich habe gemerkt, es war eine ganz bedrückte Stimmung, die, also für mich, auch sowas Fassungsloses an sich hatte. Man wollte es einfach nicht begreifen, man konnte es nicht verstehen, was da passiert ist, es fühlte sich ziemlich mies an. Und wenn es um Beschreibung in Musik geht, was Düsteres in Moll. So wie im Krimi. Dann, wenn gleich was ganz Schlimmes passieren wird, so war die Stimmung.“

Viel von dem, was da gesagt wurde, verstand sie nicht, doch selbst für ein Kind war die beklemmende Stimmung förmlich greifbar. Auch die Angst der Erwachsenen davor, wie es jetzt weitergehen werde. Dieses Gefühl sei auch danach noch deutlich spürbar gewesen und prägend für diese Zeit. Was der Mauerbau für sie verändert habe, frage ich. Mal abgesehen von unmöglich gewordenen Besuchen bei der Westverwandtschaft, zunächst nicht viel, antwortet sie mir. Ein paar kleinere Reibungspunkte habe es schon gegeben, zum Beispiel als die regimetreue Klassenlehrerin Mickey Mouse-Hefte bei meiner Mutter fand.

Wenn ich dann so an meine eigene Schulzeit denke, kann ich mir nicht im Ansatz vorstellen, dass man für so etwas Lächerliches wie ein einfaches Comicheft in ernsthafte Schwierigkeiten kommen konnte. „Das war damals eine Zeit, wo man auch meinte, dass der Sozialismus die überlegene Gesellschaftsform ist, und so wurde das auch rübergebracht. Wir wurden schon geprägt in diese Richtung.“ Unterdrückt gefühlt habe sie sich trotz allem nicht. Manchmal vielleicht ausgehorcht, wenn in der Schule wieder Fragen zum heimischen Fernsehprogramm gestellt wurden.

„Aber eigentlich wussten auch alle, wenn die Antenne unter’m Dach war, dann war’s die Westantenne. Wir wussten, dass wir mit zwei Gesichtern gelebt haben, und das hat auch funktioniert irgendwie.“

Doch alle Prägung in der Schule konnte schon damals anscheinend nicht verhindern, dass Westradio und -fernsehen ihren Weg ins Wohnzimmer fanden. Ob es ein Beatles-Konzert ist, das sich der Stiefvater heimlich hinter verschlossenen Türen ansah, oder auch meine Mutter, die ‒ logischerweise ebenfalls heimlich ‒ die Musik des Westsenders Radio Luxemburg auf der störanfälligen Mittelwelle mit dem Tonbandgerät Smaragd aufnahm (Kassetten gab es noch keine). Was heute noch abenteuerlich klingt, hatte auch schon damals den Reiz des Verbotenen inne. Etwas lakonisch stellt meine Mutter dazu fest: „Also ich sag mal so, wir waren besser informiert über den Westen als der Westen selber.“ Das klingt provokant, aber es ergibt auch irgendwie Sinn, wie sie mir erklärt. Gerade weil es nicht gern gesehen worden sei, wurde das Interesse am Westen nur umso stärker geweckt. Auf die Jugend allgemein, die ja fast per Definition gegen alles ist, was Eltern und Lehrer sagen, trifft das sowieso zu. Unangepasst zu sein (und scheinbar angepasst zugleich), gehörte einfach dazu. Doch auch wenn die Faszination Westen groß gewesen sei, hätten sie viel Musik aus der DDR gehört, wie zum Beispiel Karat, Puhdys oder Silly. Der Reiz der Ost-Musik habe dabei vor allem im Ungesagten gelegen. „Ich hab diese Musik nicht schlecht gefunden, weil sie oft poetisch war, weil die Sänger dort etwas in den Text bringen mussten, was sie nicht sagen konnten. Sie mussten das also sehr geschickt verpacken, in sehr zweideutige Formulierungen oder irgendwie in ‘ne andere Ebene das legen, damit man sie nicht dort kriegen konnte.“Auf musikalischer Ebene findet es meine Mutter daher gut, die Einflüsse von beiden Seiten zu haben. Für sie und auch für meine beiden Geschwister, die ’79 und ’80 geboren und damit waschechte Wendekinder sind, trägt die DDR-Musik noch einen sehr persönlichen Wert.

Das Aufwachsen in so einer vielschichtigen Umgebung prägt. Obwohl meine Mutter bei vielen Erinnerungen an damals lacht oder schmunzelt, war doch auch nicht alles so unbekümmert, wie es zunächst scheint. Da war zum Beispiel die eine Freundin, die im Elternhaus meiner Mutter nicht willkommen war. Während es ihr als Kind noch rätselhaft erschien, warum sie nicht erwünscht sein sollte, ging ihr viel später „ein Licht auf“, dass der Vater besagter Freundin ein „ganz hohes Tier“ an der Leipziger Karl-Marx-Universität war und auch bei der Partei hohes Ansehen genoss. Die Angst vor dem Ausgehorcht-Werden war also doch auch allgegenwärtig gewesen, zumindest bei den Erwachsenen. Für meine Mutter hieß das acht Jahre lang heimliches Spielen mit der besten Freundin. Was heute für mich undenkbar klingt, war auch für meine Mutter sehr hart, vor allem weil sie es nicht verstand. Was macht das mit einem Kind, wenn es unter solchen Bedingungen aufwächst? Zwar lacht sie, als sie das mit dem heimlichen Spielen erzählt, doch ich spüre, dass sie es vielleicht doch nicht immer so leicht nahm wie jetzt.

Alles in allem spiele an prägenden Werten aber vor allem Solidarität eine wichtige Rolle, wenn sie an das Leben in der DDR zurückdenkt. „Weniger Eliten.“, sagt sie. „Und damit war man irgendwie ziemlich gleich, der Nachbar unterschied sich nicht, der hatte och nur’n Trabi vor der Tür stehen, wenn er überhaupt einen hatte. Und nur jeder Fünfte hatte ein Telefon, die waren da auch schon privilegiert… Aber es gab eben nicht diese Eliten, die meinten, sie sind was Besseres…Dieses Elitendenken kommt ja erst, wenn man Macht und Geld hat, dann kommt das, vorher ist das ja nicht da.“

Auch im familiären Umfeld war diese Solidarität sehr wichtig. Durch den Mauerbau waren ja die meisten Familien in der gleichen Situation, Verwandte im Westen zu haben, die sie nicht besuchen konnten. Das Verschicken der heißbegehrten Westpakete bot hier einen kleinen Ersatz. Da musste dann draufstehen „Geschenksendung – keine Handelsware“. Trotz räumlicher Trennung schaffte die Teilung so auf ihre eigene Weise auch eine Form von Nähe und Kontakt.

„Und dann kam die Wende. Und die Wende war für mich zunächst mal ein Moment…wo der Druck aus dem Topf konnte, die Visionen, die Pläne und die Träume, die man zu Ostzeiten auf jeden Fall nicht verwirklichen konnte, die konnten auf einmal realisiert werden. Und da hatte ich explosionsartig Möglichkeiten und natürlich Arbeit.“

Doch irgendwie schien nach der Wiedervereinigung auch Stück für Stück diese Solidarität zu bröckeln, die vorher vielleicht auch aus der Not heraus geboren worden war. Während es im von der Nachkriegszeit geprägten Osten und Westen kurz nach der Trennung noch recht ähnlich zugegangen sei, seien nach dem 3. Oktober 1990 zwei Welten aufeinandergeprallt. Aufgrund von unschönen Ereignissen und einer Reihe persönlicher Enttäuschungen ist der Weg meiner Mutter seitdem oft steinig gewesen. Auch viele der Beziehungen in den Westen seien zu dieser Zeit zerbrochen. Der gewaltige gesellschaftliche Umbruch sorgte in ihrem Fall dafür, dass sich Menschen aus dem Umfeld veränderten, die neue Situation für sich nutzten und Macht und Geld immer mehr im Mittelpunkt standen. Insbesondere Geld hätte vor der Wende keine so große Rolle gespielt wie danach. Es sei nicht so gewesen, dass es keines gegeben hätte, nur fehlte das nötige Angebot um sich mehr als die Waren des täglichen Bedarfs oder mal ein Auto zu leisten, sagt sie. Trotz vieler Rückschläge ist sie sich aber auch sicher: „Ich fühle mich nicht als benachteiligter Ossi.“

Zwar hat sie vieles von damals seither nicht losgelassen, doch sie hat neu angefangen, inzwischen eine große Familie und besitzt seit fast zwanzig Jahren einen eigenen Blumenladen. Interessanterweise war es dabei der Ort ihrer Geburt und nicht ihrer Kindheit, den sie seit fast vierzig Jahren ihre Heimat nennt. Irgendwie sei Berlin der Ort gewesen, an den es sie immer wieder zurückgezogen hätte und auf den sich im Laufe der Jahre viele wichtige Aktivitäten, wie Familie oder Arbeit konzentriert hätten. Und während viele ihre Heimat dort sehen, wo sie aufgewachsen sind, ist sie für meine Mutter vor allem eines: Nämlich ein Ort, an dem man auch sein will. „Meine Wurzeln sind in Berlin und das ist für mich auch Heimat; hier fühle ich mich wohl, hier habe ich den allergrößten Teil meines Lebens verbracht und das ist für mich Heimat eben. Ich fühl mich hier zuhause, ich hab hier einfach soziale Kontakte und meine Wurzeln. Und die würd‘ ich nicht mehr woanders haben wollen.“

Während hier in Berlin jeder Ecke, jedem Späti jahrzehntelang Bedeutung verliehen war, sind die Orte ihrer Kindheit in Erfurt oder Leipzig mittlerweile fremd geworden. Das seien „verschlossene Türen“, doch meine Mutter findet das nicht schlimm. Erinnerungen könne man schließlich auch im Herzen tragen. In Bezug auf ihre Herkunft steht für sie fest: „Ich komme aus dem Osten.“ Das sei auch ein wesentlicher Bestandteil ihrer Identität. Obwohl dieser Staat noch gar nicht existierte als sie geboren wurde und auch jetzt nicht mehr da ist. Es ist das, was sie kennt und mit dem sie großgeworden ist. Zu Ostzeiten hätte sie sich nicht unbedingt als Deutsche bezeichnet, eine für mich heute selbstverständliche Sache. So gesehen auch eine Art von Migration ‒ wenn auch an unvermuteter Stelle. Sie bewertet das positiv.

„Ich betrachte es als Bereicherung, weil ich einen anderen Blick auf die Dinge des Lebens habe. Vieles weiß ich anders zu schätzen, weil ich es mal hatte, es verloren habe oder dazu gewonnen und die Dinge dadurch anders und vor allem kritischer und differenzierter bewerte.“

Dazu gehören bestimmte Werte wie Solidarität, aber auch Dinge wie Sparsamkeit, die sie aus Kindheit und Jugend kenne. Das eingeschränkte Angebot an bestimmten Waren habe dazu geführt, dass jedes verschlissene Kleidungsteil noch einmal umgenäht wurde und ein Großteil an Gemüse aus dem Garten hinter dem Haus kamen. Doch nicht nur Ressourcen, auch die Bedeutung einer Arbeitskraft gehöre hier dazu, sagt sie und setzt, leidenschaftlich wie immer, zu einer Rede über die zunehmende Bestellsucht via Amazon und Co. an.

Vom Renteneintritt, der theoretisch in zwei Jahren ansteht, wolle sie noch nichts wissen ‒ dafür hätte sie noch viel zu viel vor. Sich selbst und seinen Zielen trotz Widrigkeiten im Laufe des Lebens treu zu bleiben sei hart, doch genau das mache die eigene Identität aus, sagt sie.

„Ich bin sogar eigentlich ein bisschen stolz drauf […]. Das ist für mich Identität.“

Ich frage mich, was der Werdegang meiner Mutter damit zu tun hatte, dass ich geworden bin, wie ich heute bin. Seitdem mir vor wenigen Jahren jemand einmal die Frage stellte, ob ich mich als ost- oder westdeutsch sozialisiert betrachten würde, habe ich mich häufiger gefragt, was das eigentlich heißt. Dass ich zum Beispiel oft Plaste statt Plastik sage und das Wort Aktendulli kenne? Oder dass ich im Supermarkt lieber zu Kathi statt Dr. Oetker greife? Dass ich die 3€-Pantoffeln von IKEA lieber nochmal repariere als mir einfach neue zu kaufen? Mittlerweile bin ich mir ziemlich sicher: Obwohl ich nicht in der DDR geboren wurde, trage ich einen Teil von ihr auch in mir. Natürlich ist mir das an vielen Stellen nicht bewusst, aber ich bin dabei mich zu sensibilisieren. Immerhin gehört das auch zu meiner Identität.


In den dreißig Jahren seit dem Mauerfall hat sich Berlin stark verändert und neue, anders aufgewachsene Generationen sehen inzwischen hier ihr Zuhause. Was das neue Berlin für das Verständnis von Heimat und Identität für junge Berliner*innen bedeutet, hat Marie herausfinden wollen. Sie hat sich dazu mit jemandem getroffen, der so ganz anders aufgewachsen ist als sie selbst.

dazugehören

Fotografin: Marie Eisenmann

Linus ist sechzehn Jahre alt. Seinen Namen habe ich geändert. Er möchte lieber anonym bleiben. Nicht weil er sich schämt für das, was er mir erzählt, sondern weil er findet, dass auch nicht alles im Internet etwas zu suchen hat. Er ist gebürtiger Berliner und mit zwei Müttern aufgewachsen. Sein Vater lebt in München. Seine eine Mutter kommt ursprünglich aus England, die andere ist Deutsche. Inzwischen leben sie getrennt voneinander. Er lebt damit ein Familienmodell, das nicht der traditionellen Vorstellung entspricht und darum immer noch häufig mit Vorurteilen verknüpft ist.

Anfangs zweifele ich noch, wie viel ein Sechzehnjähriger die Begriffe Zuhause und Identität reflektiert. Schließlich wird die Verbundenheit zur Heimat häufig erst dann offensichtlich, wenn man sie einmal länger verlassen hat. Das Gewohnte, das einen tagtäglich umgibt, wird selten hinterfragt. Linus, der immer noch die Schule besucht, hat noch nie in einer anderen Stadt gelebt als Berlin. Ich frage ihn zunächst, worüber er sich definiert. Er habe zwar bisher noch nicht bewusst darüber nachgedacht, sagt er, er fühle sich jedoch als aktiver Bürger Berlins und Deutschlands. Zwar spiele seine Herkunft für ihn nicht immer eine große Rolle, aber er möge es, sich als Berliner zu identifizieren. „Das ist schon irgendwie eine Art Statement.“ Als gebürtiger Berliner gehört er in Berlin fast einer Minderheit an. Nur 48% der Berliner*innen sind keine Zugezogenen.

Vermutlich hätte er andere Erfahrungen gemacht, gerade was seine Familie betrifft, die nicht dem klassischen Bild von Vater-Mutter-Kind entspricht, wäre er nicht in Berlin großgeworden, meint er. Natürlich könne man sich da aber nie so sicher sein. Er spricht dabei einen Punkt an, der viele Leute in die Metropole zieht. In Berlin ist Andersartigkeit keine Schwäche. Da ist es nicht ungewöhnlich, aus einem anderen Land zu kommen, eine andere Sexualität oder Religion zu haben. Hier ist man eine*r unter vielen und kann sein, wer man will. Hier ist jede*r seine/ihre eigene Geschichte in einem dicken Buch, das viele Menschen lesen, ohne je über das betreffende Kapitel zu stolpern.

Als ich Linus frage, was für ihn Zuhause bedeutet, ist seine Antwort allerdings nicht mehr so eindeutig. Einerseits sei das in erster Linie Berlin, aber nicht ein bestimmter Ort in dieser Stadt. Da gebe es das eine Wohnhaus, in dem seine eine Mutter und er schon sein ganzes Leben lang wohnen würden und dann sei da das andere, in dem er mit seiner anderen Mutter vor drei Jahren eingezogen sei. Beide Orte seien Zuhause für ihn und doch sei Zuhause mehr als diese Orte. Neben der deutschen Hauptstadt sei mitunter Großbritannien, das Herkunftsland seiner Mutter, ein wichtiger Ort für ihn und er genieße es, die Möglichkeit zu haben, in eine andere Kultur einzutauchen. Zuhause sei jedoch auch abhängig von den Menschen, die ihn umgeben. Selbst wenn er sich nicht aufhalte, wo er wohne, fühle er sich zuhause, wenn er bei seiner Familie ist.

„Ich hab keine Heimat, ich hab nur dich. Du bist Zuhause für immer und mich.“

Annenmaykantereit

Dabei habe sich Linus‘ Verständnis von Zuhause mit der Zeit jedoch gewandelt. Als seine Eltern noch zusammen waren, da sei sein Zuhause ein fester Ort gewesen. Da dachte er sich noch: „Hier bin ich, hier wohn‘ ich, hier ist mein Leben und deswegen ist das Zuhause.“ Aber mit der Trennung seiner Eltern sei dieser Ort geteilt worden und sein Zuhausegefühl habe sich auf mehrere Räume in der Stadt verteilt. Heute sei auch die Schule ein Art Zuhause für ihn, schließlich verbringt man dort als Kind oder Jugendliche*r vermutlich mehr Zeit als andernorts.

Wir kommen schließlich mehr auf seine Familiensituation zu sprechen. Kinder mit homosexuellen Eltern sind nach wie vor ein kontroverses Thema in Deutschland. Erst seit 2017 mit der Öffnung der Zivilehe für gleichgeschlechtliche Paare ist es homosexuellen Paaren möglich, Kinder zu adoptieren. Das bedeutet nicht, dass die Diskussionen, ob homosexuelle Paare Kinder haben sollten, aufgehört haben. Linus wünscht sich in solchen Momenten mehr Toleranz. Er spricht darüber, dass es zwar nicht schön zu hören sei, wenn vor allem im Netz diese Meinungen kursieren, er inzwischen aber auch nicht mehr schockiert sei von der Kritik. Er sei optimistisch, dass sich unsere Gesellschaft positiv entwickle und sich durch Zeit die Akzeptanz von allein einstellen werde. „Es steckt vor allem in den Köpfen der älteren Generation.“ Aber diese Generation lebe nicht ewig. Die Vorurteile kämen durch die fehlende Sensibilisierung für das Thema. Was anders wahrgenommen werde, sei erstmal fremd und werde daher nicht als normal angesehen. Weil ein Kind, das mit zwei Müttern oder zwei Vätern aufwächst, nicht dem traditionellen Familienbild entspreche, das in unserer Gesellschaft herrsche, fehle seiner Meinung nach die Toleranz, das zu akzeptieren, was von der Norm abweiche. Er hält es für wichtig, dass öffentlich über das Thema gesprochen wird, aber aus der Perspektive derjenigen, die selbst Erfahrungen mit der Thematik machen. Es helfe, offen darüber zu sprechen, aber es helfe nicht, zu diskutieren, ob Kinder in Regenbogenfamilien unter schlechteren Bedingungen aufwachsen. Was inzwischen durch mehrere Studien auch eindeutig widerlegt wurde.

Mit negativen Reaktionen ist Linus selbst nicht häufig konfrontiert. Viele würden eher überrascht reagieren, wenn er davon erzählt, dass er nicht mit einer Mutter, sondern gleich mit zwei Müttern aufgewachsen sei. Wenn er danach gefragt wird, habe er kein Problem, darüber zu sprechen. Aber auch nicht mit jedem. Gerade Leute, die er kaum kennt, gehe es nichts an, wie er aufgewachsen sei oder mit wem er lebe, sagt er. Da gehe es allerdings nicht um Peinlichkeit, um Scham, sondern um Privatsphäre. Man erzählt schließlich nicht jedem seine Lebensgeschichte, man geht auch nicht auf jeden zu und erzählt ungefragt: Meine Eltern sind homosexuell. Als er noch jünger war, habe ihn die Frage, ob er darüber sprechen soll, noch mehr beschäftigt. Nicht nur mit Fremden, sondern auch mit Leuten, die er gut kennt, sei da diese Unsicherheit gewesen. „Soll ich das sagen, ist es zu privat?“ Er habe sich nie für seine Eltern geschämt, aber er habe gewusst, dass seine Art, aufgewachsen zu sein, nicht für jeden gewöhnlich ist. Er habe nicht einschätzen können, wie es aufgenommen werden würde. Mittlerweile erzähle er gerne von seiner Familie und sei sogar ein bisschen stolz. „Es ist auch immer eine interessante Geschichte, vor allem wenn du weißt, dass Menschen darauf nicht negativ reagieren werden.“

Damit gestalte er selbst das Bild mit, meint er. Weil durch ihn andere Leute mit dem Thema in Berührung kämen, gerade diejenigen – und damit meint er vor allem andere Kinder und Jugendliche – die von zuhause eben nur das klassische Familienbild kennen. Immer wieder Thema ist in unserem Gespräch aber auch, dass diese Erfahrungen in Berlin vermutlich anders ablaufen als an anderen Orten, weil hier Homosexualität offener gelebt wird, sichtbarer ist. Berlin gilt als Weltstadt der LGBTIQ-Community, hier kommt der CSD einem Feiertag gleich. Die Pride-Flagge ist in jeglicher Form ein Accessoire der Stadt. Berlin schmückt sich mit Unvoreingenommenheit und Liberalität.

Fotografin: Marie Eisenmann

Linus erzählt außerdem, welche Rolle seine Familie für seine Identität spiele. Von Kindesbeinen an sei ihm vorgelebt worden, dass Homosexualität normal sei, eine Realität, mit der Kinder von heterosexuellen Paaren meist viel später konfrontiert werden würden. Das habe ihn offener und toleranter gemacht, vermutet er.

Weil ich mich dafür interessiere, in welcher Beziehung unsere Identität zu Familie, Erfahrungen, Heimat und Herkunft stehen, frage ich ihn, ob er glaubt, dass er seine Identität selbst gestaltet oder er von äußeren Umständen definiert wird.

„Eine Mischung aus beidem. Ich bin mein eigener Mensch und entscheide, was ich machen will und was ich nicht machen will und wer ich bin.“

Er wirft jedoch die Frage auf, ob das nicht ganz anders sein könnte, wenn er woanders unter anderen Bedingungen aufgewachsen wäre, wo Homosexualität beispielsweise nicht selbstverständlich ist. Gerade politische Meinungen würden häufig dadurch geprägt, wo und wie man groß wird. Das liegt allerdings nicht in unserer Hand. So beeinflusse ihn neben seiner Familie auch seine Heimatstadt, was seine politische Grundeinstellung angehe. Das lässt sich auf trivialeren Ebenen genauso beobachten. Stichwort Style. Man ziehe das an, was man cool finde. Und was man cool finde, kristallisiere sich aus dem heraus, was man am meisten sehe. In der Art und Weise, wie man sich kleide, drücke man seine Zugehörigkeit aus, die aus dem Wunsch resultiere, nicht anders sein zu wollen als der Rest. So hätten wir großen Einfluss auf unsere Identität und dieser nehme vielleicht auch den höchsten Stellenwert ein. Letztlich seien wir aber genauso Produkte unseres Umfelds.


Where do you come from? Mit dieser einfach erscheinenden Frage beginnt Pico Iyer seinen Ted Talk. Iyers Wurzeln liegen in Indien, er ist in England geboren und aufgewachsen, hat den Großteil seines Lebens in Amerika gelebt und verbringt heute die meiste Zeit in Japan. Was ist also Zuhause für ihn?
Zuhause hängt mehr mit Gefühlen zusammen, als mit einem Stück Erde. Es ist ein sich immer weiterentwickelndes Projekt, das jeder immer mit sich trägt, und das stetig verändert wird. Auf unserem Weg kommen immer neue Teile hinzu, die unser Zuhause definieren.
Ebenso wie jeder Zuhause individuell definieren und kreieren kann, kann jeder sein eigenes Ich gestalten. Auf der Suche danach, wer wir sind, führt allerdings kein Weg an der Frage vorbei, wieso wir sind, wie wir sind. Und dieses Wieso liegt oft begründet in unseren Wurzeln. Das bedeutet für manche ein bestimmtes Land, eine Region oder eine Stadt, für andere die Familie oder das soziale Umfeld. Wir wären nicht die Menschen, die wir sind, wenn wir woanders aufgewachsen oder in andere Familie geboren wären. Wir hätten andere Erfahrungen gemacht. Heimat ist der Ort, der mitbestimmt, wie unser Leben aussehen wird. Sie prägt unsere Mentalität, unsere Gewohnheiten, unsere Vorstellungen von einem guten Leben. Unsere Herkunft muss aber nicht unser Zuhause sein. Auch für Iyer ist Zuhause dort, wo wir sein können, wer wir sein wollen. „Home is not just the place where you happen to be born. It’s the place where you become yourself.“


Titelbild-Konzept von Juliane Herbst

[ssba]

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